»Wir sind Deutschland«

Nach den Morden in Paris: Wo steht der Islam?

Jeder soll nach seiner Façon selig werden – mit diesen Worten machte Friedrich II., den man zu Recht den Großen nennt, Preußen am 22. Juni 1740 zu einem der ersten Staaten mit gesetzlich garantierter Religionsfreiheit. Auf dem Papier hatte es das schon früher gegeben, zum Beispiel im Römischen Reich ab 313. Der Preußenkönig aber sorgte dafür, dass es nicht bei der schönen Theorie blieb.

 

Ein halbes Jahrhundert nach Friedrichs Toleranzedikt beschreibt Immanuel Kant die Religion als moralisches Gesetz, das der Mensch im Idealfalle aus eigener Vernunft erkennt. Da aber der Mensch nicht vollkommen sei, so der Philosoph 1793 in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, sei er sich „des moralischen Gesetzes bewusst und hat doch die Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“ Religion steht für ihn im engen Zusammenhang mit den Begriffen Freiheit, Verantwortung und Vernunft. Staatlichen Zugriff lehnt er ab, dennoch – vielleicht aber auch gerade darum – gerät seine Schrift ins Visier der preußischen Zensurbehörden, die unter Friedrich Wilhelm II. bei weitem nicht mehr so tolerant sind wie unter dessen Vorgänger.

Auf jeden Fall aber ist die Religionsfreiheit – neben dem ebenfalls von Friedrich dem Großen verkündeten Folterverbot – ein unverzichtbares Kernstück rechtsstaatlicher Tradition in Deutschland. Sie gilt selbstverständlich auch für den Islam. Und sie entbindet ebenso selbstverständlich weder den Islam noch irgendeine andere Religionsgemeinschaft davon, staatliches Recht einzuhalten und gewachsene sittliche Normen zu respektieren.

Heute bekennen sich rund vier Millionen Menschen in Deutschland zum Islam. Der steht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes, das sich hier zu Recht auf eine gestandene deutsche und preußische Tradition beruft.

Aber halten sich diese vier Millionen Muslime auch an die Maximen einer säkularisierten Gesellschaft? Viele Bürger haben den Eindruck, dass es hier an Respekt vor Gesetz, Werten und sittlichen Normen mangelt. Parallelgesellschaften in bestimmten städtischen Bezirken, Probleme in den Schulen, mangelnde Sprachkenntnisse, Kopftuch und Burka, Jugendbanden mit rassistischem, antisemitischem und antideutschen Hintergrund, überdurchschnittlich hoher Kriminalitätsanteil – solche Erfahrungen scheinen die Ängste vor Islamisierung zu schüren, verstärkt noch durch islamistischen Terror.

Politik und gesellschaftliche Organisation haben diese Probleme allzu lange nicht wahrhaben wollen. Heute wollen sie nicht wahrhaben, dass Menschen  auf die Straße gehen, weil sie sich von ihren Vertretern nicht mehr verstanden fühlen.

Im Ansatz hat das nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, eher mit dem unbestimmten Gefühl, in diesem unserem Lande seine Heimat zu verlieren. Die noch Überlebenden der millionenfachen Fluchtwelle am Ende des Krieges wissen, was ein solcher Verlust bedeutet.

Leider haben sich inzwischen radikale Kräfte – recht- und linksaussen – dieser Themen und Ängste bemächtigt. Das verwundert nicht, aus mehreren Gründen:

• Der politische Alltag ist meist zu unspektakulär, um für Extremisten etwas herzugeben. Daher greifen sie dankbar zu, wenn ihnen ein Thema überlassen wird, das hinreichend emotional beladen und folglich zu populistischen Attacken geeignet ist.

• Deutschland ist, ob einem das nun passt oder nicht, ein Einwanderungsland, tut aber so, als wäre es das nicht. Seit Jahrzehnten hielten Politik und Medien (der Autor dieser Zeilen schließt sich da nicht aus) diesen Irrglauben aufrecht. Es wurde höchste Zeit, sich davon zu verabschieden und auch  eigene   Fehleinschätzungen zuzugeben.

• Weltpolitische Zusammenhänge – zum Beispiel, was alles mit der derzeitigen Flüchtlingswelle zu tun hat – sind höchst kompliziert, müssen daher mit viel Geduld und Aufwand den Menschen erläutert werden. Wer das versäumt, leistet den Vereinfachern Vorschub. Aber auf schwierige Fragen gibt es nun einmal keine einfachen Antworten!

•Anfangs waren die Teilnehmer und wohl auch die meisten der Organisatoren allzu unerfahren, ja geradezu naiv im Umgang mit Medien und Politik, haben daher oft im Ton vergriffen. Dem hätte man mit etwas weniger Empfindsamkeit begegnen sollen.

• Die organisierten Vertreter des Islam in Deutschland haben sich allzu lange zurückgehalten und es versäumt, eindeutig Stellung zu nehmen. Bei allen Problemen und selbst nach Terrorakten zu beteuern, das habe „nichts mit dem Islam zu tun“, wurde immer unglaubwürdiger.

• Dem Islam insgesamt fehlt bis heute eine klare, zeitgemäße, aufgeklärte und verbindliche Auslegung des Koran, die es ein für allemal ausschließt, dass fanatische Extremisten und Terroristen sich auf Gott, den Propheten oder einzelne Suren berufen können.

 

Seit den Morden von Paris haben sich die Dinge grundlegend geändert, auch in Deutschland. Es scheint, so makaber das auch klingt, als hätten die Mörder mit ihren Kalaschnikows den Menschen die Augen geöffnet.

Da ist zum einem die bemerkenswerte Demonstration der Millionen, die das freie Wort als eines der wichtigsten Güter unserer Gesellschaftsordnung verteidigen. Vielleicht haben jetzt viele Menschen endlich begriffen, wie gefährlich es war, unsere Werte gering zu achten und schließlich zu demontieren.

Da ist zum anderen das Auftreten islamischer Repräsentanten und Würdenträger. Als Beispiel sei der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, genannt. Der 1969 in Aachen geborene Sohn einer Deutschen und eines Syrers, von Beruf Medienberater, wirkte bei verschiedenen Anlässen nach dem Anschlag von Paris, unter anderem bei der Mahnwache am Brandenburger Tor, durchaus glaubwürdig. Seine Worte waren klar und unmissverständlich: Absage an alle Versuche, Terror religiös zu begründen, aber auch an Parallelgesellschaften, an einen islamischen Staat im Staate mit der Scharia als übergeordneter Rechtsordnung, ferner das uneingeschränkte Bekenntnis zu Grundgesetz, Rechtsordnung und zur freiheitlichen Gesellschaft unseres Landes. Ein solcher Islam braucht niemandem Angst zu machen, er kann durchaus zum heutigen Deutschland gehören.

Allerdings muss das nun auch in der Praxis, im täglichen Leben, umgesetzt werden, konsequenter als bisher. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime wirkte in diesen Tagen ehrlich und glaubwürdig, deshalb dürfen und müssen wir ihn auch künftig beim Wort nehmen – genauer: bei seinem Schlusswort: „Wir alle sind Deutschland“!

Hans-Jürgen Mahlitz