Weltverbesserung nach Noten
Was die Musik dem Einzelnen und der Gesellschaft geben kann
Wo man singt, da lass’ dich fröhlich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder“ – das Sprichwort ist „zu schön, um wahr zu sein“. Oder doch nicht? Einerseits passt es weder zu rassistischen Hassgesängen alkoholisierter Fußballfans noch zu aggressiv machendem Techno-Gedröhne. Andererseits sind sich Psychologen, Neurologen und Soziologen weitgehend einig, dass Musik messbare – und oft durchaus positive – Wirkungen auf das Denken, Empfinden und Sozialverhalten von Menschen hat. Und damit auch auf gesellschaftliche, sprich politische Entwicklungen.
Also doch „Weltverbesserung nach Noten?" Wird alles gut, wenn nur der richtige Ton getroffen wird? Werden – Jahrhunderte nach Beethoven und Schiller – doch noch „alle Menschen Brüder“, wohlbeschwingt und wenn’s denn sein muss im Dreivierteltakt? Hindemith und Heino, Domingo und DJ Özi harmonisch vereint als globale Friedensstifter?
Die Wirklichkeit sieht manchmal, aber leider nicht immer so schön und geradlinig aus. Ein Beispiel: Da will man sich im Konzertsaal des Luzerner KKL verzaubern lassen von den Klängen eines Orchesters, das zu grossen Teilen aus jungen Juden, Muslimen und Christen besteht. Doch können auch Mozart und Ravel nicht verdrängen, dass draußen, in der Heimat vieler dieser Musiker, gerade mal wieder ein mörderischer Krieg geführt wird.
Dennoch wird der Gründer und Chefdirigent dieses „West-Eastern Divan Orchestra“, Daniel Barenboim, nicht müde, seinen ebenso einfachen wie bislang unerfüllten Appell zu wiederholen: „Hört endlich auf mit dem Töten, in Palästina ist für uns alle Platz“. Der Maestro weiß, wovon er redet: Er hat zwei Pässe, einen israelischen und einen palästinensischen. Das deutsche Publikum schätzt ihn als Chef der Berliner Staatsoper und Staatskapelle und als Dirigent spektakulärer Bayreuth-Inszenierungen. Beim ersten Gastspiel der Berliner Philharmoniker in Israel stand er am Pult, und er ließ sich auch nicht von ultra-orthodoxen Scharfmachern irritieren, als er erstmals nach dem Kriege Wagners Tristan in seiner Heimat erschallen ließ.
Gemeinsam mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edvard Said und dem Weimarer Kulturmanager Bernd Kauffmann hatte Barenboim 1999 das West-Eastern Divan Orchestra gegründet, ein Ensemble junger israelischer, arabischer und europäischer Musiker. Begleitet von wohlwollendem Schulterklopfen wurde dieser Vision einer dank der Musik etwas friedlicheren Welt das alsbaldige Verstummen prophezeit.
Darauf warten die kritischen Geister seit numehr über zwei Jahrzehnten vergebens, dem Gott aller Weltreligionen sei's gedankt. Die Stimme dieses Orchesters mit diesem Dirigenten ist unüberhörbar, auch wenn immer wieder dunkle Geweitterwolken über dem Heiligen Land aufziehen..
Inzwischen kommt Unterstützung von unverhoffter Seite. Neurologen, Psychologen und Soziologen gehen interdisziplinär der Frage nach, was Musik dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft insgesamt geben kann. Hier kommt die Hirnforschung zu wahrhaft aufregenden Ergebnissen. Hirnstrommessungen zeigen, dass Musik keineswegs nur jene „grauen Zellen“ erreicht, die direkt fürs Akustische zuständig sind. Ob Bach, Beethoven oder Beatles – sie entfachen ein neuronales Feuerwerk, das keine Partie der menschlichen Denkzentrale auslässt.
Das wiederum führt, wie der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke erläutert, zu Verhaltensweisen, die den Aufbau sozialer Beziehungen fördern. So wird Musik auch ohne Fremdsprachenkenntnisse zur gemeinsamen Sprache – „ein Lied sagt mehr als tausend Worte“.
Natürlich bleibt der allumfassend globale Chor, in dem es keine „bösen Menschen“ mehr gibt, eine unerreichbare Vision. Es ist aber schon viel gewonnen, sich diesem Ziel zu nähern. In der Musik steckt enormes Potential – leider haben das – im negativen Sinne – Werbefuzzis und Diktatoren wieder einmal schneller kapiert als demokratische Politiker.
Hans-Jürgen Mahlitz