Das Wandern ist des Lesers Lust

 

Hans-Jürgen Mahlitz über Stefan Wincklers Buch "Erlebnis Fränkische Saale"

Das Wandern, so ließ Franz Schubert vor nunmehr 200 Jahren seinen Liederzyklus "Die schöne Müllerin" beginnen, sei "des Müllers Lust". Der Autor des Liedtextes hieß zwar Wilhelm Müller, war von Beruf jedoch Lehrer und Bibliothekar. Und hätte er damals ein Buch wie das jetzt hier vorliegende zur Hand gehabt, hätte er womöglich gedichtet "Das Wandern ist des Lesers Lust"!

Unter dem Titel "Erlebnis Fränkische Saale" hat der Journalist und promovierte Historiker Stefan Winckler ein Buch geschrieben, das – salopp gesagt – eher nicht ins Bücherregal, sondern in den Rucksack gehört und deshalb zu Recht den Untertitel "Ein Reisebegleiter" trägt. 

Der Autor ging seinen Lesern mit gutem Beispiel voran und hat sich dieses Buch im wörtlichen Sinne erwandert, und zwar mit der Kamera in der Hand. So entstand ein rundum ansehnliches Werk mit rund 275 farbigen Fotos, von denen nur ein einziges als aus fremder Quelle stammend zu kennzeichnen war. Natürlich ist nicht jedes dieser Fotos der Kategorie "Hohe Kunst" zuzuordnen.  Doch dies hat gute Gründe: Im Zweifelsfalle war Winckler gut beraten, den angestrebten Informationsgehalt über den künstlerischen Wert zu stellen. Der Erfolg gibt ihm recht. Die immer wieder fotografisch unterstützten Texte vermitteln ein breit gefächertes Angebot an Informationen über eine Region, die üblicherweise eher am Rande des touristischen und publizistischen Interesses steht.

Schon der Buchtitel verweist auf eine weit verbreitete Wissenslücke: Wem ist schon bewusst, dass es im Herzen Deutschlands gleich zwei Flüsse namens Saale gibt, die übrigens beide im bayerischen Franken entspringen.Die bekanntere ist die Sächsische Saale; sie fließt durch Städte mit klangvollen Namen wie Jena, Naumburg, Merseburg oder Halle, um nach 413 Kilometer in die Elbe zu münden.

Ihre kleinere und weniger bekannte "Schwester", die Fränkische Saale, bringt es nur auf 135 Kilometer.Die aber haben es „in sich“. Von der Quelle bei Alsleben (nördliches Unterfranken) bis zur Mündung in den Main bei Gemünden schlängelt sie sich durch abwechslungsreiche Landschaften und attraktive Orte. So, wie Winckler sie beschreibt, laden sie nicht nur passionierte Wanderer und Naturfreunde ein, sondern sprechen auch jene Zeitgenossen an, die eher zur Bequemlichkeit neigen. Denn die Lektüre dieses Buches ist auch dann ein Genuss, wenn man nicht gleich nach dem ersten Kapitel die Wanderstiefel schnürt.

Das hat seine Gründe: Der Autor ist eben nicht nur aufmerksamer Beobachter einer von Natur und Kultur gleichermaßen geprägten Landschaft, der sein journalistisches Handwerkszeug – also den Umgang mit der Sprache – beherrscht, sondern zugleich auch promovierter Historiker. So lässt er immer wieder geschichtliche Hintergründe und Zusammenhänge einfließen, wie in dem ausführlichen Kapitel, das er Bad Kissingen widmet (S. 160 – 219). 

Das Ergebnis sind Texte, die deutlich über die Funktion eines Reisebegleiters hinausgehen und deren Informationswert spürbar zum sympathischen Image dieser Flusslandschaft beiträgt. Ein Eindruck, der natürlich auch dadurch verstärkt wird, dass der Autor offen zu erkennen gibt, wie sehr ihm diese Landschaft am Herzen liegt.

Geschichtsbewusste Leser werden sich bei dem anfangs zitierten Liedgut erinnern, dass auch das Wandern eine durchaus historische Dimension hat. Zum Beispiel spielen im Schaffen des Dichterfürsten Goethe die Lehr- und Wanderjahre eine wichtige Rolle. 

Schon die alten Griechen wussten, dass περιπατεῖν (peripatein/herumgehen, umherwandeln, wandern) das Denkvermögen fördert, insbesondere die Fähigkeit, zsammenhängende Gedankengänge zu entwickeln. Folgerichtig nannte sich die Philosophenschule des Aristoteles "Peripatetiker". 

Ebenfalls aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert datiert eine Inschrift, die am Ostrand des Athener Burg-Berges gefunden wurde. Sie beschreibt fast schon im Stil eines heutigen Reisebegleiters einen Weg namens "περίπατος" (Peripatos), auf dem man die gesamte Akropolis umwandern konnte. 

Oder, um in die jüngere Zeitgeschichte zu wechseln: Karl Carstens war der erste und bislang einzige Bundespräsident, der nach seiner Wahl die Republik für sich erschloss, indem er sie systematisch erwanderte – was ihn fundamental von jenem seiner Vorgänger abhob, der es sich lieber „hoch auf den gelben Wagen“ bequem gemacht hatte.

Mit so viel Historie im Marschgepäck ist denn auch unsere anfängliche Zuordnung zu korrigieren beziehungsweise zu erweitern: Dieses Buch gehört eben nicht nur als Reisebegleiter in den Rucksack, sondern auch ins Bücherregal, und zwar in die Abteilung „informativ und unterhaltsam“ – ein Lesevergnügen, das sich allenfalls noch steigern ließe, hätte man eine Karte, die Flussverlauf zeigt, hinzugefügt.

Stefan Winckler: Erlebnis Fränkische Saale. Ein Reisebegleiter. Verlag: Königshausen & Neumann, Würzburg. ISBN 978-3-8260-8347-1. 404 Seiten. Preis: 24,00 €