Selbstmord – aus Angst vor dem Tod? Teil 2
Wie sich unsere Medienlandschaft in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, welchen Anteil privates Fernsehen und Internet daran hatten,
und was Richter mit falschen Signalen anrichten.
Von Hans-Jürgen Mahlitz
Den ersten Dammbruch bescherte uns der private Rundfunk. Durch diese neu aufkommende Konkurrenz werde auch im öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen das Niveau gehoben, erwarteten die Befürworter (zu denen damals auch der Autor dieses Beitrags zählte). Eine höchst peinliche Fehleinschätzung, wie sich längst herausstellte. Denn das Gegenteil trat ein. Mit den sprachlichen und inhaltlichen Hemmschwellen sank das Niveau immer weiter ab, unter alle sprichwörtlichen und konkreten Gürtellinien. Heute sehen wir in ARD und ZDF zu bester Sendezeit Beiträge, denen gegenüber RTL-Skandalnummern der frühen Jahre (erst „Der Preis ist heiß“, dann „Der Greis ist heiß“) harmlos und langweilig wirken.
Dann kam das Internet. Anfangs zeigte es sich nur von seiner guten Seite. Gerade uns Journalisten eröffnete es Recherchemöglichkeiten, von denen wir zuvor allenfalls träumen konnten. Zumal, wenn man nicht zu den Privilegierten gehörte, die bei einem finanzstarken Sender oder Verlagshaus angestellt waren. Endlich konnten auch jene mithalten, die eben nicht das nötige „Kleingeld“ zur Verfügung hatten, um brisante Informationen zu kaufen, wochenlang „auf Verdacht“ under cover zu recherchieren oder mit teuren Reisen möglichst vor der Konkurrenz vor Ort zu sein.
So haben Wikipedia, Yahoo und Google, um nur die wichtigsten zu nennen, ihren durchaus verdienstvollen Beitrag zur Stabilisierung der Pressefreiheit geleistet, indem sie den weniger begüterten Kollegen etwas mehr Chancengleichheit verschafften. Zudem profitierten insbesondere die Exponenten sogenannter Minderheits-Positionen von den deutlich verbesserten Möglichkeiten der Vernetzung.
Der „Stammtisch“ als Stimmungsdiktator
Mit Facebook und ähnlichen, angeblich „sozialen“, in Wahrheit eher asozialen Medien wurden dann aber die Weichen endgültig in die falsche Richtung gestellt. Der „Stammtisch“ schwang sich zum weltweit wirkenden Meinungs- und Stimmungsdiktator auf. Wohlgemerkt: nicht der real existierende Stammtisch, zu dem sich, leider immer seltener, ganz normale Menschen treffen, auf ein Bierchen oder ein Glas Wein, auf Kaffee und Kuchen oder einen nach Landessitte zelebrierten Tee, um sich zu unterhalten, vielleicht auch mal einen derberen Witz loszulassen oder gemeinsam über Abwesende zu schimpfen – das alles aber immer begrenzt auf den eigenen, kleinen Kreis.
Goethe – wo hat denn der gespielt?
Nein, hier geht es um den „virtuellen“ Stammtisch, Synonym dafür, dass jeder jedem alles an den ebenfalls virtuellen Kopf werfen kann. Da sind in beängstigendem Tempo alle Schranken und Grenzen gefallen: Es wird beleidigt, beschimpft, herabgewürdigt, mit einem Vokabular, das einst der Gosse vorbehalten blieb. Auf der Suche nach einer immer drastischeren Fäkalsprache kann man sich natürlich nicht bei so spießigen Dingen wie Grammatik oder Zeichensetzung aufhalten.
Und kommt dann mal so ein Gruftie mit merkwürdigen Sprüchen wie „Wir sind doch das Volk der Dichter und Denker, das Volk Goethes und Schillers“, dann ist die harmloseste Reaktion noch die Gegenfrage „Bei wem haben die denn gespielt?“ (Laut Google und Wikipedia übrigens weder beim FC Bayern noch bei den Beatles!)
So tief ist es gesunken, das Volk der Dichter und Denker. Und statt das wenigstens für sich zu behalten, schämt es uns nicht, all diesen Dreck und Schund vor aller Welt auszubreiten. Geistige Umweltverschmutzung in dieser gigantischen, weltweiten Dimension wäre doch eigentlich etwas für fanatische Globalisierungsgegner – aber die nutzen diese „social medias“ ja selber gern und intensiv.
Kommen wir zurück zu Renate Künast. Dankenswerterweise begnügt sie sich nicht damit, sich über diesen geistlosen Unrat und dieses unerträgliche Vokabular zu ärgern; sie hat den Kampf aufgenommen. Und dazu kann es doch eigentlich nur eine einhellige Position geben: Keine noch so pointierte Äußerung der Grünen-Politikerin könnte eine solche Gewaltsprache rechtfertigen; hier müssen Persönlichkeitsrecht und Ehrenschutz absoluten Vorrang vor der Meinungsfreiheit haben.
Ja, ja, eigentlich! Das zuständige Berliner Gericht sah das ganz anders. Es stufte – im Namen des Volkes! – übelste Diskriminierungen und primitivste Beschimpfungen und Drohungen als noch zulässige Meinungsäußerungen ein.
Was solche Richter vom Grundgesetz halten
Man soll ja, so habe ich das vor einem halben Jahrhundert gelernt, als Journalist mit Kritik an der Rechtsprechenden Gewalt besonders sorgfältig und behutsam umgehen. Also frage ich, ganz sorgfältig und behutsam: Was halten diese Richter eigentlich vom ersten Artikel unserer Verfassung? Interessiert es sie nicht, dass da steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“? Punkt. Aus. Keine Einschränkung auf einen irgendwie begrenzten Personenkreis. Keine Abstufung: die einen haben etwas weniger Menschenwürde, die anderen etwas mehr. Kein Hinweis auf einschränkende Gesetze, die alles weitere regeln sollen.
Statt die Menschenwürde der Grünen-Politikerin Künast zu schützen, wie es laut Grundgesetz ( Artikel 1 Absatz 3) „unmittelbar geltendes Recht“ ist, gab das Gericht mit seinem wunderlichen Urteil ein fatales Signal an die Netzgemeinde: Haut drauf, Hauptsache, es läßt sich hinterher als „Meinungsäußerung“ interpretieren. Sollte das ausnahmsweise einmal nicht ziehen, kann man ja immerhin auf den Kunstvorbehalt zurückgreifen – Menschenwürde und Ehrenschutz: Nein danke!
Das ist nichts anderes als ein Freibrief für verbale Gewalt. Und wie die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke oder der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle zeigten, können solche Signale auch auf Menschen treffen, für die der Weg von verbaler zu direkter Gewalt kurz ist.
Zugleich fällt die Justiz mit solchen Urteilen jenen in den Rücken, die in Politik, Medien oder sonst wo in der Gesellschaft bemüht sind, der ausufernden Verrohung, Enthemmung, Respektlosigkeit und Verblödung Einhalt zu gebieten. Auch wirken solche Urteile wie Resonanzböden. Sie verstärken die Reichweite der digitalen Ehrabschneider; nun bekommt auch, wer aus gutem Grund nicht bei Facebook und Co. surft, diesen verbalen Dreck frei Haus geliefert.
Die Fälle, wie dieses Urteil in Sachen Künast, sind zu spektakulär, um sie zu ignorieren. Die Informationspflicht vor allem der öffentlich-rechtlichen Sender gebietet, umfassend zu berichten. Die Entscheidung, wie weit man dabei ins Detail gehen muss oder darf, zum Beispiel mit wörtlichen Zitaten, ist eine schwierige Gratwanderung: Was dient der Sache, was ist noch Chronistenpflicht, was schon unangemessene Aufwertung?
Denn hier steht auf der einen Seite ein Berufsstand mit dem Erfordernis breiter Allgemeinbildung und solider fachspezifischer Ausbildung, auf der anderen Seite die verbreitete Illusion, ein PC, ein Smartphone mit genügend Kamera-Pixeln und ein Social-media-account machten auch den dümmsten Deppen zum Top-Journalisten. Das klingt, als wenn der Besitz eines Blutdruckmessers für neun Euro neunundneunzig jeden, der drei Ausgaben der Apotheken-Rundschau „studiert“ hat, zum Facharzt machen würde.
Freilich müssen wir Journalisten uns stets bewusst sein: Wer die andere Seite über Gebühr stärkt, schwächt die eigene Seite. Und was die schleichende Demontage des eigenen Berufsstandes betrifft, da haben wir selber nun wirklich keinen Handlungsbedarf; das übernehmen Donald Trump & Co.
Der US-Präsident und seinesgleichen machen mit der Politik das gleiche, wie manche Netzaktivisten, Blogger, Influencer und wie immer sie sich titulieren mit den Medien: Sie demontieren Professionalität und bewährte traditionelle Strukturen.
Die Folgen: Bei demokratischen Wahlen geht es bald mehr um Stimmungen als um Stimmen, Populisten jeglicher Schattierung schauen nicht „dem Volk aufs Maul‘“, sondern reden ihm lieber nach dem Mund, „Wutbürger“ geraten ins Stottern, wenn man sie fragt, worauf sie eigentlich wütend sind, Publikumsbeschimpfungen werden preiswürdig,
Vom bösen Wort zur schlimmen Tat
Demo-Profis bestreiten alles (außer den Kosten für den eigenen Lebensunterhalt), selbsternannte Saubermänner halten gern die Hand auf, wenn „Staatsknete“ verteilt wird, Parteien dulden, solange sie nicht erwischt werden, Wahlhilfe von Oligarchen, Diktatoren oder Algorithmen, Politiker fühlen sich „hereingelegt“, wenn sie vor versteckter Kamera und Mikrofon so reden, wie sie denken.
Und irgendwo erreicht all dieser Unrat, in Internetforen ins Unermessliche verstärkt, dann auch Typen, die sich dadurch ermutigt fühlen, nun endlich alle Hemmungen fallen zu lassen: „Wenn alle anderen so sind, dann brauch ich selber ja auch auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen!“ Da kann dann der Weg vom bösen Wort zur schlimmen Tat sehr kurz werden.
Wenige Tage nach dem Attentat von Halle brachte Oliver Welke in der Heute-Show es auf den Punkt: „Wie wäre es, wenn man einfach mal für drei, vier, fünf Tage das Internet komplett abschalten würde! Komplett!“ Die Publikumsreaktion auf diesen Vorschlag einer „digitalen Schweigewoche“: tosender Applaus. Wie viele der begeisterten Studiogäste anschließen daheim wirklich ihr Internat abgeschaltet haben, ist leider nicht überliefert.
Dieser Beitrag erscheint auch in der Zeitschrift "Non Nobis" (Folge 21),
Herausgeber: OMCT Tempelritterorden e.V., Chefredakteur: Dr. Stefan Winckler