Lehrstunde in Sachen Demokratie

Seit 25 Jahren erinnert der Deutsche Bundestag am 27. Januar an den Holocaust – es ist der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz. Bedeutende Persönlichkeiten haben in diesen alljährlichen Gedenkstunden große, bewegende Reden gehalten; stellvertretend für alle seien Simon Peres und Elie Wiesel genannt. In diesem Jahr knüpfte Charlotte Knobloch an diese eindrucksvolle Tradition an – unser Parlament erlebte eine Lehrstunde in Sachen Demokratie.

 

Um den ersten Satz ihrer Ansprache – "Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche" – aufzugreifen: Wir können stolz sein, einem Volk anzugehören, in dessen Parlament solche Reden gehalten werden können. Und wir können auch stolz sein, in einem Land zu leben, das Überlebende des schlimmsten Menschheitsverbrechens  – in und von diesem unserem Volk begangen – heute wieder als Heimat annehmen können.

Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München, fand genau die richtigen Worte, mit denen sie die Abgeordneten und die obersten Repräsentanten unseres Staates an ihren 88 Lebensjahren teilhaben ließ. Eine Biografie, vorgetragen mit stellenweise fast beklemmender Sachlichkeit, gerade dadurch aber mit so starker emotionaler Wirkung. Sie machte die jüngere deutsche Geschichte zu unser aller persönlichen Angelegenheit.

Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Was ist zu tun, damit derartiges nie wieder geschieht? Frau Knoblochs stellte wichtige Fragen, und sie gab richtige Antworten; das machte ihre Rede zu einem Lehrstück in Sachen Demokratie. „Seid wachsam!“ mahnte sie, unsere Demokratie müsse wehrhaft sein, noch wehrhafter als bislang.

Wie aktuell diese Forderung ist, lehrte der Blick in die rechte Ecke des Plenums. Da sitzen sie, die nach demokratischen Regeln gewählten Abgeordneten jener Partei, die sich „Alternative“ nennt. Das ist sie auch, allerdings nicht „für“, sondern „gegen Deutschland“. Das Deutschland, das wir – mühsam, oft schmerzhaft und bei weitem nicht perfekt – geschaffen haben, ist die wahre Alternative zur 1945 besiegten Barbarei. Daher ist der Name dieser Partei ein genauso übler Etikettenschwindel wie die Beteuerungen, man stehe doch voll hinter dem Grundgesetz. Schließlich stand auch Brutus "voll hinter Cäsar", weil er von da aus am besten zustechen konnte. 

Nein, diese Partei will ein anderes Deutschland und ein anderes Abendland. Nicht unsere von Altem und Neuem Testament, von Athens Staatskunst, von römischem Rechtsdenken und von Freiheit mit Verantwortung verknüpfender Aufklärung geprägte Gesellschaft, nicht seine kulturelle und geistige Vielfalt. Sie nutzt alle Möglichkeiten, die ihr ein offener freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat bietet, um eben diesen zu bekämpfen, mit gezielten Tabubrüchen und wohlkalkulierten sprachlichen Entgleisungen. Wenn dann dem bösen Wort die noch schlimmere Tat folgt, hat man natürlich "so etwas nicht gewollt" und "nichts damit zu tun", ganz wie der Kampfhundbesitzer, dessen vierbeiniger Liebling ja auch "nur spielen wollte". 

Wie viel Demokratiefeindlichkeit kann die Demokratie ver- und ertragen? Wie tolerant müssen wir gegenüber Intoleranten sein? Sind wir wehrhaft genug – nicht nur Politiker und sonstige Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens, sondern wir alle? Wehren wir uns auch in unserem persönlichen, privaten Umfeld gegen offenen oder latenten Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus? 

Rassisten, Revanchisten und Antisemiten berufen sich gern auf die vom Grundgesetz geschützte Meinungsfreiheit, allerdings auf sehr selektive Weise: Artikel 5, Absatz 1 stellen sie an die Spitze alle Grundrechte, freilich eingeschränkt auf ihre eigene Meinung. Dass es im 2. Absatz heißt "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre", unterschlagen sie. 

In diesem Zusammenhang verwies Frau Knobloch auf Artikel 18: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit … zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte." In der Tat wird dieser Grundgesetz-Artikel im öffentlichen Diskurs eher beiseite gedrängt – bei weitem nicht nur bei verbalen Entgleisungen aus der rechtspopulistischen Ecke. Im übrigen kennt unsere Verfassung nur ein Grundrecht, das über allen anderen steht: Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Ohne Ausnahme! Ohne Einschränkung! Ohne Abstufung!

Charlotte Knoblochs direkt an die AfD gerichtete Worte sollten alle Demokraten ermutigen, zugleich aber zur Wachsamkeit mahnen: "Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen. Und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 75 Jahren verloren!" 

 

PS: Ich habe es mir angetan, nach dieser Gedenkstunde die einschlägigen Kommentare im Internet zu lesen. Was man da liest, ist zum erheblichen Teil nicht freie, schützenswerte Meinung, sondern geistige Umweltverschmutzung, blanker Hass, primitivste Gosse. Und das kommt immer aus derselben Ecke. Niemand wird von irgend jemandem in diese Ecke gedrängt. Ob Parteifunktionär, Wähler, Sympathisant, auf Pöstchen spekulierender Opportunist oder gedankenloser Nachplapperer – wer da steht, hat sich selber dahin gestellt! 

Wo die breite Mehrheit unseres Volkes steht, zeigte sich auch in der coronagebeutelten TV-Karnevalssitzung "Mainz bleibt Mainz": Den stärksten Beifall erhielt Büttenredner Andreas Schmitt (Obermessdiener), als er sich expressis verbis auf Charlotte Knoblochs Gedenkrede bezog und die Reaktion der AfD-Abgeordneten so beschrieb: betretenes Schweigen – einigen sei geradezu "der Endsieg aus den Gesicht gefallen"