Jenseits aller Klischees
Georges Simenon, der geistige Vater des Commissaire Maigret,
war einer der erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Eine Würdigung von Hans-Jürgen Mahlitz.
Ja, es hat ihn wirklich gegeben. Ich habe ihn sogar persönlich kennengelernt. Es war an einem trüben Dezembertag, einem Sonntagmorgen, in Paris, im 17. Arrondissement. Am Boulevard Pereire hatte ich mein Auto geparkt und schon mal das Gepäck eingeladen, um schnell noch ein Croissant und einen Café-au-lait zu nehmen. Derweilen brachen Diebe die Wagentür auf und räumten aus, was nicht niet- und nagelfest war.
Im für Autoeinbrüche zuständigen Kommissariat begrüßt mich ein freundlicher Beamter: „Maigret, Commissaire Maigret ...“ Bevor ich reagieren kann, hält er mir seinen Dienstausweis hin: Nein, das sei kein Scherz, er wolle mich nicht veralbern, er heiße wirklich Maigret.
Damit war die Ähnlichkeit denn auch schon erschöpft; vor allem war er nicht annähernd so erfolgreich wie das große literarische Vorbild. Täter und Beute blieben unauffindbar, die ärgerliche Affäre endete, dank Commissaire Maigrets gekonnt ausgefertigten Formularen, schließlich als Fall für die Versicherung - und dort mit der süffisanten Frage des Sachbearbeiters nach meinen Lesegewohnheiten: „Wohl zu viele Krimis gelesen?“
„Zu viele Krimis“ im Sinne dieser Frage habe ich eigentlich nicht gelesen, und wenn überhaupt, dann auf die „richtigen“ Autoren geachtet: Sjöwall/Wahlöo, Hansjörg Martin, Boileau/Narcejac, -ky - vor allem aber George Simenon. Der geistige Vater des Kommissar Maigret zählt zu den erfolgreichsten und auflagenstärksten Autoren der gesamten Weltliteratur, freilich auch zu den umstrittensten.
In den internationalen Feuilletons wird immer wieder die Frage diskutiert, ob Kriminalromane überhaupt der Literatur im engeren Sinne zuzuordnen sind. Und in diesem speziellen Falle: War George Simenon nur dann ein ernstzunehmender, „großer“ Literat, wenn er den Kommissar Maigret außen vor ließ? Muss man sein Werk in Romane erster und zweiter Klasse einteilen?
Bei den Antworten sollte man es sich nicht so leicht machen. Simenon hat, wie auch andere Autoren, gute und weniger gute Bücher geschrieben. Einige wirken etwas oberflächlich, wie literarische Massenkonfektion, andere wie „Maßanzüge“: bis ins letzte Detail stilistisch ausgefeilt, überzeugend aufgebaut, einfach Meisterwerke. Solche Qualitätsschwankungen sind normal, schmälern nicht den Rang eines Autors - selbst Genies haben hin und wieder einen schwächeren Tag.
Georges Simenon, am 13. Februar 1903 in Lüttich zur Welt gekommen, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Vater Désiré verdiente als Buchhalter gerade mal das Nötigste zum Existenzminimum, Mutter Henriette strebte nach Höherem, ohne dieses je zu erreichen. Der heranwachsende Georges, in vielerlei Hinsicht reichlich frühreif, begann schon als 16jähriger, sein Schreib-Talent zu vermarkten, als Reporter bei der Tageszeitung Gazette de Liège. Er berichtete über Grubenunglücke, Radrennen und Opernpremieren, fühlte sich von diesen journalistischen Aufgaben aber ebenso wenig ausgefüllt wie von den Beständen der Gemeindebücherei oder der holden Weiblichkeit, der er sich schon als pubertierender Jüngling äußerst intensiv zuwandte.
Mit 19 trieb es den ungestümen Jung-Journalisten von der Maas an die Seine: Allein Paris sei „würdig, mich zu empfangen“, befand der junge Belgier, stand mit dieser selbstbewussten Einschätzung aber für längere Zeit ziemlich allein da. Als Laufbursche und Sekretär eines irrtümlich für bedeutend gehaltenen Marquis verdiente er das nötige Kleingeld für Lebensunterhalt und Liebschaften. Für letztere reichte es bald nicht mehr, also begann er wieder zu schreiben. Dabei befolgte er den Rat der Literatur-Redakteurin von Le Matin: „Merzen Sie alles Literarische aus Ihren Werken aus!“, produzierte wie am Fließband an die 200 Groschenromane und belieferte – unter Dutzenden von Pseudonymen – alle im Boulevardbereich aktiven Pariser Verlage. Bald konnte er sich eine Wohnung an der Place des Vosges leisten, am gesellschaftlichen Leben der Seinemetropole teilnehmen (wobei er unter anderem Picasso und Josephine Baker kennenlernte) und sogar unter die Bootseigner gehen. Mit der „Ostrogoth“ ging er 1929 auf große Fahrt, ankerte unterwegs im holländischen Delfzijl - und erfand dort einen Anti-Helden namens Maigret. Trotz anfänglicher Bedenken brachte sein Verleger „Maigret und Pietr der Lette“ heraus. Dies war der Beginn einer Weltkarriere.
In den folgenden 43 Jahren schrieb der Belgier insgesamt 75 Romane und 28 Erzählungen, in denen Maigret die Hauptrolle spielte. In unzähligen Verfilmungen gaben die größten Leinwandstars den Kommissar: Rupert Davies, Heinz Rühmann, vor allem aber Jean Gabin, um die wichtigsten zu nennen. Die Krimis wurden in 55 Sprachen übersetzt und erreichten bislang eine Auflage von weltweit über 100 Millionen Exemplaren.
Dies allein hätte schon gereicht, Simenon zum reichen Mann zu machen. Und es hätte die meisten Schriftsteller wohl auch zeitlich voll ausgelastet. Nicht so Simenon: Er wollte mehr. Mehr verdienen, und das hieß: mehr schreiben.
Also schrieb er auch noch über 100 Romane, in denen kein Maigret vorkam, ferner Tagebücher und autobiographische Werke, alle von hohem literarischem sowie kommerziellem Rang. Die Gesamtauflage reicht bereits an eine halbe Milliarde heran.
Allen gemeinsam ist dies: Die handelnden Personen sind keine künstlichen Fantasiefiguren, sondern „Menschen wie du und ich“, mit Stärken und Schwächen ohne allzu extreme Ausschläge. Immer wieder kommen bei der Lektüre solche Gedanken: Solch einen Typen habe ich doch auch schon mal getroffen! Oder: In solch eine Situation könnte ich auch mal geraten! Die Handlungen sind selten spektakulär, zwar oft überraschend, doch stets so, dass man hinterher sagt: eigentlich ganz logisch.
In den Kriminalromanen zum Beispiel steht die Tat selbst nie im Vordergrund, wird eher beiläufig erwähnt, oft nur, um das Auftreten des Kommissars vom Quai des Orfèvres zu rechtfertigen. Die Menschen selbst sind wichtig, vor allem ihre Psyche, die Umstände, die den einen zum Täter, den anderen zum Opfer werden lassen. Dies alles ohne die heute verbreitete Unart, Schuld vom Täter hin zum Opfer zu verschieben. Bei Simenon gewinnt der Verbrecher zwar durchaus menschliche Züge, bleibt aber stets ein Verbrecher. Und die Opfer werden nicht zu Engeln hochstilisiert, bleiben aber Opfer. Dies dürfte auch begründet sein in jenen streng konservativen, „rechten“ Denkstrukturen, denen der junge Simenon in seinen Lütticher Jahren verhaftet war und von denen er sich nie völlig gelöst hat, ungeachtet seines persönlichen Lebensstils, der nicht immer christlich-konservativen Wertvorstellungen entsprach.
Der belgische Autor führte ein unstetes Leben, wohnte mal in Frankreich, mal in Amerika, dann wieder in Frankreich, schließlich in der Schweiz. Mehr als 30mal zog er um, ließ vom Schloss bis zum Hausboot keine Art der Behausung aus. Erst in den letzten Jahren vor seinem Tod kam er zur Ruhe. Zum Schluss glich er jenen unprätentiösen Gestalten, die seine Romane bevölkerten – Simenon und Maigret wurden eins.
Menschen genau zu beobachten und in all ihren Facetten zu beschreiben, das war zweifellos die herausragende Stärke dieses Romanciers. Gleiches gelang ihm auch bei der Darstellung von Stimmungen, Begleitumständen, Lokalitäten, Handlungsrahmen, und zwar ebenso perfekt. Ein Schweizer Literaturkritiker schrieb einmal: „Wenn es bei Simenon regnet, wird der Leser nass!“ Das ist zwar überspitzt formuliert, aber nicht all zu sehr.
Der Literatur-Nobelpreis, von dem der Belgier zeitlebens träumte, blieb ihm versagt (was nicht unbedingt als Abwertung zu verstehen ist, wenn man die Liste der Preisträger der letzten Jahre betrachtet). Auch ohne diese Auszeichnung ist er der erfolgreichste und einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Lesenswert ist nahezu alles, was er je geschrieben hat. Die autobiographischen Spätschriften und viele der Non-Maigret-Romane sind Meisterwerke der Literaturgeschichte, und mit dem Kommissar Maigret hat er eine Figur geschaffen, die geradezu unsterblich ist.
Simenons Maigret unterschied sich zwar deutlich von „meinem“ Maigret. Der eine saß in einem ziemlich schäbigen Vorstadt-Kommissariat im Norden der Millionenmetropole, der andere am Quai des Orfèvres auf der noblen Île de la Cité, nicht nur an, sondern mitten in der Seine. Der eine verwaltete Fahrzeug-Einbrüche, die nie aufgeklärt wurden (ich war damals Fall Nr. 416, nur an diesem Wochenende und nur in diesem einen Partiser Arrondissement, wohlgemerkt), der andere jagte Mörder, in aller Regel erfolgreich, wie sich das für einen Krimi-Helden so gehört.
Dennoch: Wenn ich einen meiner Simenons aus dem Bücherregal ziehe, sehe ich „meinen“ Maigret wieder vor mir. Wenn er nur etwas erfolgreicher gewesen wäre, hätte er nicht nur mir persönlich einen großen Gefallen getan, sondern vielleicht auch die Chance gehabt, zur Mordkommission am Quai des Orfèvres versetzt zu werden – und so vielleicht auch das Vorbild für einen großen Romanhelden abzugeben. Eben einen wie Simenons Maigret ...
Vierzig Jahre lang, seit 1977, erschienen die ins Deutsche übersetzten Werke Simenons beim Diogenes Verlag in Zürich. 2010 startete der Verlag eine Serie von Neuauflagen mit 50 Maigret-Romanen. Zu den spannendsten zählen „Maigret und Pietr der Lette“, „Maigret und die junge Tote“, „Maigret als möblierter Herr“, „Maigret und die Keller des ,Majestic'“, „Maigret und das Dienstmädchen“, „Maigret und der einsame Mann“ sowie „Maigret hat Skrupel". Aus der Reihe der Non-Maigret-Romane sind vor allem empfehlenswert: "Der Mann mit dem kleinen Hund“, „Tropenkoller“, „Die Fantome des Hutmachers“, „Antoine und Julie“, „Der Tod des Auguste Mature“, „Der Zug aus Venedig“, „Das Haus am Kanal“, „Die grünen Fensterläden“ und „Der ältere Bruder“. Wer sich mit dem Autor selbst näher beschäftigen möchte, sollte auf „Simenon. Eine Biographie“ von Stanley G. Eskin oder auf „Als ich alt war. Tagebücher von 1960-1963“, „Stammbaum. Pedigree“ oder „Intime Memoiren und Das Buch von Marie-Jo“ vom Autor selbst zurückgreifen. Für Feinschmecker zu empfehlen: „Simenon und Maigret bitten zu Tisch. Die klassischen Bistrorezepte der Madame Maigret“. Nicht zu empfehlen hingegen sind die meisten der schätzungsweise 1200 anonym verfassten Groschenromane und Erotik-Trivialitäten, für die sein ausschweifendes Liebesleben offenbar hinreichend Vorlagen bot.
Wie es sich für echte Krimis ziemt, gab der 2017 erfolgte Verlagswechsel mancherlei Rätsel auf. Bis heute fällt es schwer, plausible Gründe zu finden, warum Simenons Sohn John die Rechte an den deutschsprachigen Ausgaben der Werke seines Vaters ausgerechnet dem Neu-Verleger Daniel Kampa zu übertragen, der immerhin zwanzig Jahre lang in Diogenes-Diensten eben diese Werke betreut hatte und sich nun mit dieser "Beute" selbständig machte, nach einem Zwischenspiel bei Hoffman und Campe in Hamburg.
Kampa, der wie kaum ein anderer mit Werk und Autor vertraut war, wollte offensichtlich daran anknüpfen, dass Simenon es verstanden hatte , nahezu alles, was er zu Papier brachte, auch zu Geld zu machen. Das brauchte er auch, um seine zahlreichen Wohnsitze und Liebschaften zu finanzieren. Daher war er, was Themen und literarische Genres betraf, nicht wählerisch. So verfasste er auch drei Hörspiele, zwei ziemlich erfolglose Theaterstücke und drei Ballett-Librettos, von denen allerdings nur eins auf die Bühne kam. Weitaus erfolgreicher war seine Präsenz im internationalen Film: 50 seiner Romane wurden verfilmt, zu zweien (beide mit Jean Renoir als Regisseur) schrieb er die Drehbücher.
Politisch galt er als rechtskonservativ, auch wenn er in seinem literarischen Werk klare weltanschauliche Positionierungen vermied. Nach dem Krieg, den er im besetzten Frankreich verbrachte, wurde ihm Kollaboration mit den Deutschen vorgeworfen, was seinen Erfolg aber nicht nachhaltig schmälerte – im Gegensatz zu manchen deutschen Schriftstellerkollegen, die es versäumt hatten, sich im rechten Moment dem linken Lager zuzuwenden.
Seinen zwiespältigen Charakter hatte Simenon wohl geerbt. Der Vater ein kleinbürgerlicher wallonischer Buchhalter, die Mutter halb Preußin, halb Holländerin. Den prägenden Unterschied brachte er selber auf den Punkt:“ Meinem Vater fehlte nichts, meiner Mutter fehlte alles!“
Am 4. September 1989 starb Georges Simenon in der Schweiz nach schwerer Krankheit. Sein Werk aber lebt weiter.