Heldenhafter Anti-Held
Hans-Jürgen Mahlitz über Joachim B. Schmidts Roman “Tell"
Wie in kaum einem anderen Land ist die nationale Identität so stark auf eine Person, einen Namen, fokussiert: Die Schweiz ist Wilhelm Tell, Wilhelm Tell ist irgendwie jeder Schweizer. Zumindest fast jeder. Dass man von diesem Wilhelm Tell nichts weiß außer der Gewissheit, dass es ihn nach Überzeugung nahezu aller Historiker als geschichtliche Person gar nicht gegeben hat, stört die Eidgenossen überhaupt nicht. Im Gegenteil: Als Sagenfigur ist er offen für die vielfältigsten Interpretationen seiner Herkunft, seines Charakters, seiner Taten – jeder kann sich seinen eigenen Tell denken. Kein Wunder also, dass jede politischer Partei, egal ob links, rechts oder Mitte, sich selbst als einzig kompetenten Nachlassverwalter des Tell'schen Erbes sieht.
Kein Wunder auch, dass der Sagenheld von Dichtern und Schriftstellern ebenso unterschiedlich dargestellt wird. Erstmals betritt er um 1470, also mit über anderthalb Jahrhunderten Verspätung, die Bühne der literarischen Welt, im so genannten "Weißen Buch von Samen". Wenig später entsteht ein zunächst mündlich weitergegebenes Tell-Lied, 1512 wird in Altdorf am Vierwaldstättersee ein "Urner Tellspiel" aufgeführt, was sogar den Zürcher Reformator Ulrich Zwingli begeistert: Tell bejubelt er als "gotskrefftig held und erster anheber eidgnossischer fryheit". Um 1550 schließlich beschreibt Aegidius Tschugi im "Chronicon Helveticum" die Ereignisse in der bis heute überlieferten Form und datiert sie auf das Jahr 1307. Vollends zum Nationalhelden wird Tell durch Friedrich Schillers 1804 veröffentlichtes Drama, in dem der Tyrannenmord zum Auftakt der Befreiung des unterdrückten Volkes wird. Aber es gibt auch andere Stimmen. So macht sich Max Frisch bei Teilen der Schweizer Bevölkerung unbeliebt, als er 1971 Tell den Heldenstatus abspricht, Gessler etwas weniger tyrannenhaft zeichnet und die Urschweizer Eidgenossen als hinterwäldlerisch abstraft.
So hält Tell seit nunmehr einem halben Jahrhundert Politiker und Poeten auf Trab. Doch soll man nicht meinen, es sei doch nun wirklich alles gesagt und geschrieben über einen, den es gar nicht gegeben hat. Gerade eine solche fiktive Gestalt gibt schier unbegrenzte Deutungsvarianten her. Die jüngste – und gewiss eine der originelleren Art – legt nun der zeitgenössische Autor Joachim B. Schmidt vor. Der 40-Jährige Graubündner, der heute in Island lebt, liefert unter dem simplen Titel "Tell" einen Roman ab, der nie vorgibt, in Wahrheit eine Biografie oder gar ein historisches Lehrbuch zu sein. Schmidt will ganz einfach Geschichte erzählen, und das gelingt ihm so gut, weil er Geschichten erzählt. Er zerlegt die Handlung in einzelne kleine Episoden. In scheinbar willkürlicher, am Ende aber doch logisch wirkender Reihenfolge lässt er mal diese, mal jene der handelnden Personen als Erzähler in Ich-Form auftreten.
Diese Aufteilung in kleinste Literaturhäppchen ist anfangs gewöhnungsbedürftig. Doch schon bald gelingt dem Leser wie von selbst die Zuordnung der handelnden Erzähler zur erzählten Handlung, und mit zunehmender Spannung kann er aus den unterschiedlichsten Perspektiven beobachten, wie Tell vom griesgrämigen, im negativsten Sinne hinterwäldlerischen Antihelden am Ende doch noch zu einem – wenn auch recht eigenwilligen – Helden wird. Eigentlich ohne es selbst zu wollen, und wohl auch nicht im Sinne jener Eidgenossen, die sich am Nationalfeiertag traditionsgemäß als "einzig Volk von Brüdern" auf dem Rütli versammeln, um ihren ganz anderen Tell zu feiern.
Aber niemand kann wissen, was für ein Mensch dieser Tell gewesen wäre, wenn es ihn denn gegeben hätte, daher kann auch niemand dem Autor unterstellen, sein Titelheld sei nicht der wahre Tell. Aber vielleicht war jene rätselhafte Figur, die der Tell-Sage zugrunde liegen mag, ja doch nicht so wie Schillers Dramenheld, sondern eher einer wie Joachim Schmidts Wilhelm. Dann müsste so mancher Eidgenosse sein Heldenbild korrigieren, zumindest um ungewohnte Nuancen erweitern. Die stolze 700-jährige Geschichte der Eidgenossenschaft müsste darum aber nicht gleich neu geschrieben werden.
Wir haben es hier mit einem Autor zu tun, der nicht nur – was Handlung und Personen betrifft – gute Ideen hat, sondern auch das Sprachvermögen, seinen Visionen eine neue, angemessene literarische Form zu geben. So ist dieser Roman nicht nur für Schweizer, sondern für alle Freunde guter zeitgenössischer Literatur lesenswert. Und da der Autor gerade erst die 40-er Altersgrenze überschritten hat, darf man sich schon auf sein nächstes Buch freuen.
Joachim B. Schmidt, Tell. Diogenes-Verlag, Zürich. ISBN 978 3 257 07200 6. 268 Seiten. 23 €.