Zeitlos aktuell: ein Klassiker als eBook

 

Hans-Jürgen Mahlitz über eine Neuausgabe des Dramas "Philoktetes" von Sophokles

 

Listen, Lügen und Leiden archaischer Helden als eΒook – ob das dem Autor gefallen hätte? Man weiss es nicht, denn ihm war weder das Wort (neugriechisch ιλεκτρόνικο βίβλιο) noch die damit bezeichnete Kommunikationstechnik bekannt. Aber dass seine Werke nach nahezu zweieinhalb Jahrtausenden immer noch als veröffentlichungswürdig gelten, das hätte ihm mit Sicherheit gefallen. Und so haben wir das Vergnügung, das Drama „Philoktetes“ von Sophokles in neuer deutscher Übersetzung als ebook zu lesen.

 

Wobei „Vergnügen“ allenfalls der Art der Rezeption angemessen ist. In der Tat ist es angenehm und praktisch, in dem aufs Tablet gespeicherten Text zu navigieren (in der altmodischen Welt des bedruckten Papiers nannte man das „umblättern“), die Schriftgröße individuell einzustellen und auf Reisen die komplette Bibliothek, sofern sie digitalisiert ist, mitzunehmen.Weniger vergnüglich: Änderungen der Schriftgröße wirken sich auch auf den Zeilen- und Seitenumbruch aus. Und das erschwert es zusätzlich, den Text im richtigen Versmaß zu lesen – zusätzlich, weil es ohnehin schwierig ist, das Versmaß der Originalsprache in der deutschen Übersetzung auch nur halbwegs beizubehalten. Hinzu kommt, dass ein eBook natürlich nicht mit der Ästhetik des Schriftbildes klassischer Ausgaben mithalten kann. Dies alles darf aber kein Grund sein, diese und andere moderne kommunikationsformen bei klassischen Texten abzulehnen.

 

Die insgesamt sieben Tragödien von Sophokles sind Teil einer 14-bändigen Sammlung klassisch-griechischer Dichtkunst, herausgegeben zwischen 1829 und 1844, gedruckt in LeipzigWenden wir uns nun dem Inhalt des Dramas zu: Schonungslos detailliert beschreibt Sophokles die stinkend-eiternden Wunden seines Titelhelden – so einen wollen Agamemnon und Menelaos nicht mit nach Troja nehmen, auch wenn er als der beste Bogenschütze der griechischen Welt gilt; Odysseus übernimmt die Drecksarbeit und setzt Philoktetes auf einer einsamen Insel aus.

Neun Jahre lang versuchen die vereinigten Griechen erfolglos, Troja einzunehmen und zu zerstören, um die Entführung der schönen Helena zu rächen. Nachdem nun auch noch Superstar Achilles gefallen ist, fällt ihnen Philoktetes ein: Der hat doch Pfeile und Bogen des Herakles geerbt, und damit ist er treffsicher wie kein anderer. Nur ihm traut man zu, das Kriegsglück doch noch zu Gunsten der Hellenen zu wenden. Der ihn einst ausgesetzt hat, wird nun losgeschickt, ihn zurückzuholen.

Und das ist nicht Homers Odysseus. Sophokles‘ Odysseus ist nicht „edel“ und „Zeus ebenbürtig an Klugheit“ (Διί μήτιν αταλάντοσ, Ilias II/407/636), sondern hinterhältig, verlogen, skrupellos. Erst nutzt er schamlos die Naivität und Charakterschwäche seines Begleiters, des Achilles-Sohnes Neoptolemos, aus, um den immer noch zutiefst beleidigten Philoktetes zu besänftigen, dann läßt er die Maske fallen: Der Zweck, also der Sieg über Troja, heiligt alle Mittel!

Klassisches Schriftbild: Textbeispiel aus Sophokles' Spätwerk "Philoktetes" in der altgriechischen Ausgabe von 1841.Modernes Schriftbild: der selbe Textauszug in deutscher Übersetzung als eBook, herausgegeben von Diogenes.Spätestens jetzt wird das 2450 Jahre alte Drama brandaktuell. Heute geht es nicht mehr um den Sieg über Troja, heute geht es – zum Beispiel – um die Unterwerfung der Ukraine oder Taiwans, um die Auslöschung des Staates Israel, um die gewaltsame Niederschlagung friedlich demonstrierender Iranerinnen, um die Macht im bürgerkrieggeschüttelten Jemen. Oder auch „nur“ darum, demokratisch legitimierte öffentliche Projekte zu verhindern, Andersdenkende, Anderslebende, Andersaussehende in Wort und Tat zu diskriminieren oder der Mehrheit die eigene Minderheitsmeinung aufzuzwingen.

Aber heute wie damals spielt es überhaupt keine Rolle, ob der Zweck, um den es gerade geht, gerechtfertigt ist oder nicht. Odysseus damals wie Putin heute und alle ihre Gesinnungsgenossen zu allen Zeiten sind subjektiv davon überzeugt, im Recht zu sein. Und daher nehmen sie sich das Recht, zu jedem Mittel zu greifen, also auch zu jedem Unrecht.

weiter zu Teil 2 ...