Zeitlos aktuell: ein Klassiker als eBook - Teil 2
Spätestens jetzt wird das 2450 Jahre alte Drama brandaktuell. Heute geht es nicht mehr um den Sieg über Troja, heute geht es – zum Beispiel – um die Unterwerfung der Ukraine oder Taiwans, um die Auslöschung des Staates Israel, um die gewaltsame Niederschlagung friedlich demonstrierender Iranerinnen, um die Macht im bürgerkrieggeschüttelten Jemen. Oder auch „nur“ darum, demokratisch legitimierte öffentliche Projekte zu verhindern, Andersdenkende, Anderslebende, Andersaussehende in Wort und Tat zu diskriminieren oder der Mehrheit die eigene Minderheitsmeinung aufzuzwingen.
Aber heute wie damals spielt es überhaupt keine Rolle, ob der Zweck, um den es gerade geht, gerechtfertigt ist oder nicht. Odysseus damals wie Putin heute und alle ihre Gesinnungsgenossen zu allen Zeiten sind subjektiv davon überzeugt, im Recht zu sein. Und daher nehmen sie sich das Recht, zu jedem Mittel zu greifen, also auch zu jedem Unrecht.
Darüber hinaus sagt dieses so alte und doch so zeitgemäße Drama einiges aus über den Umgang mit Kranken und Behinderten – damals wie heute. Lediglich dem – anonymen (!) – Chor billigt Sophokles ein wenig Mitleid mit Philoktetes zu. Odysseus hingegen interessieren nicht die Schmerzen, sondern nur die Schmerzensschreie des von einer Giftschlange Gebissenen. Die und der Gestank der offenen Wunde hatten die gen Troja ziehenden Krieger dermaßen gestört, dass sie den Bogenschützen noch während der Überfahrt der griechischen Flotte aussonderten. Dass ausgerechnet jener, der ihn auf der einsamen Insel Lemnos aussetzt hatte, ihn neun Jahre später zurückholen soll, hat nichts mit später Reue zu tun, sondern nur mit dem Orakel, demzufolge Troja ohne Philoktetes und seine Wunderwaffe nicht einzunehmen sei. Das ist blanker Opportunismus: wichtig ist nur, dass – und nicht wie – man sein Ziel erreicht! Neoptolemos, der Odysseus begleitet, steht dem kaum nach, auch wenn er nicht ganz so direkt Lug und Trug zu legalisieren versucht. Aber auch ihn berührt die eigene seelische Befindlichkeit weit stärker als das traurige Schicksal des Philoktetes.
Und seien wir ehrlich: Fällt uns da nicht sofort der eine und andere Zeitgenosse ein? Ist Putin der Odysseus des 21. Jahrhunderts? Haben wir ihn nicht allzu lange für den Odysseus Homers gehalten, klug, listenreich, edel? Und haben wir nicht erst jetzt, viel zu spät, gemerkt, dass er der Odysseus des Sophokles ist, verlogen, hinterhältig, skrupellos?
Im Drama führt die Mission letztlich zum Erfolg. Dennoch stellt der Autor Odysseus und Neoptolemos nicht als Sieger dar. Sie stehen am Rande des Scheiterns, was jedoch der Überlieferung vom Fall Trojas widersprechen würde. Sophokles löst das Dilemma mit einem schon damals beliebten Trick, dem "deus ex machina": Halbgott Herakles schwebt aus der Kulisse herab (wie der Reitende Bote des Königs in der Dreigroschenoper) und befiehlt, was Philoktetes zu tun hat. Ein auch für heutige Leser tröstliches Ende: lieber höhere Gewalt als Triumpf des Bösen!
Kurt Steinmann hat den altgriechischen Text behutsam ins Deutsche übersetzt, in zeitgemäßer, aber nicht modernistischer Sprache. Der in Luzern lebende Altphilologe versteht es eben, dem Leser des 21. Jahrhundert einen Stoff aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert gut lesbar, unterhaltsam und spannend zu präsentieren; er knüpft damit an seine großartige, 2017 erschienene Ilias-Prunkausgabe an.
Prof. Markus Janka, der an der Universität München Griechisch und Latein lehrt, ergänzt den Text mit detaillierten sprachwissenschaftlichen Anmerkungen und bemerkenswerten Interpretationsansätzen. Damit trägt auch er dazu bei, dieses uralte Drama zu einer zeitlosen und gerade darum zu allen Zeiten aktuellen Lektüre zu machen – lesenswert, egal, ob auf Papier oder Tablet…
Sophokles: Philoktet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann, Nachwort von Markus Janka. Diogenes-Verlag, Zürich. Hardcover Leinen, 144 Seiten, 25,00 €; eBook 21,99 €.