Ja, aber…
Zum Hamas-Terror gegen Israel ein Kommentar von Hans-Jürgen Mahlitz
Paradoxe Welt: Nie Geschehenes, nie Vorstellbares ist geschehen, die Welt ist heute nicht mehr, was sie gestern noch war – schon wieder eine Zeitenwende!
Wirklich? Ist mit dem Terrorangriff der Hamas tatsächlich eine neue Zeit angebrochen, nicht nur für den Nahen Osten, sondern für die ganz Welt?
Einiges deutet darauf hin. Die unmenschliche Brutalität und die akribische, logistisch „perfekte“ Vorbereitung lassen diesen Angriff ebenso einmalig erscheinen wie einst den Versuch einer systematischen Ausrottung des europäischen Judentums durch Hitlers National-Sozialisten. Das eine wie das andere bleibt auf seine Weise singulär, entzieht sich jeglicher Relativierung.
Der Angriff kam überraschend, traf Armee und Geheimdienst Israels völlig unvorbereitet. Aber warum?
Offenbar war die Stimmung im ganzen Land durch den monatelangen Streit über die Justizreform dermaßen aufgeheizt, dass „normale“ Politik nicht mehr stattfand. Schuld daran sind beide Seiten. Auch wenn eine behutsame Reform fällig war, um das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Justiz wieder in die richtige Balance zu bringen: Premierminister Netanjahu wollte das Ungleichgewicht nicht ausgleichen, sondern umkehren, die Gegendemonstranten wollten nicht nur diese Einseitigkeit verhindern, sondern das alte Ungleichgewicht erhalten. Die Unversöhnlichkeit, mit der sich beide Seiten gegenüberstanden, blockierte offenbar auch den für Israel existentiellen Bereich der Sicherheitspolitik.
Dies haben radikale Palästinenser und ihre Unterstützer in Teheran, Damaskus und Moskau offenbar aufmerksam beobachtet. Nun sahen sie den geeigneten Moment zum Losschlagen gekommen, zumal die so genannte Weltöffentlichkeit ja mit Ukraine-Krieg und Klima-Krise hinreichend beschäftigt ist. Völlig sicher sind sie sich der uneingeschränkten Unterstützung in der islamisch geprägten Welt, die in Form arabischstämmiger Migranten auch bis weit in unsere westliche Gesellschaft reicht. Mehr noch: Bislang konnten sie sich auch darauf verlassen, dass im Westen die Grenzen zwischen Antisemitismus und demokratisch legitimierter Kritik an politischen Maßnahmen des Staates Israel fließend sind.
Aus gutem (also eigentlich aus fürchterlich schlimmem) Grund hat in Deutschland die Sicherheit Israels den Rang einer Staatsräson. Und das bezieht sich nicht nur auf diesen 1948 gegründeten Staat und seine heutigen Einwohner, sondern auf das jüdische Volk insgesamt. In aller Welt!
Insbesondere in Deutschland. Auch wenn es inzwischen mehrere Generationen her ist – wir sind das Land, in dem ein Hitler an die Macht kam, ohne Militärputsch, demokratisch, wenn auch ohne Mehrheit in einer freien Wahl. In dem die Vernichtung des Judentums systematisch geplant, fabrikmäßig organisiert und millionenfach durchgeführt wurde. In dem eine verbrecherische Clique an der Staatsspitze sich auf Hunderttausende, vielleicht gar Millionen von Mittätern, Mitläufern und Mitwissern verlassen konnte. Die übrigens nachher nichts getan und nichts gewusst haben wollen.
Natürlich haben wir, die Nachgeborenen, tatsächlich nichts getan und nichts gewusst. Aber das ist unser Volk, das ist unsere Geschichte, und diese Last haben wir zu (er)tragen. Nie wieder! Wer, wenn nicht wir, soll denn dafür verantwortlich sein!
Da scheinen sich in diesem unserem Lande auch alle einig zu sein: Kollektivschuld: nein – kollektive Scham: ja – kollektive Verantwortung: ja! Spätestens wenn es konkret um jenen Teil des Judentums geht, dem vor 75 Jahren endlich die seit zwei Jahrtausenden gewaltsam vorenthaltene Staatlichkeit zurückgegeben wurde, mit Teilen einer Stadt, die schon vor drei Jahrtausenden ihre Hauptstadt war – spätestens dann kommt dieses "Ja, aber…".
Da wird dann munter relativiert. Da werden nicht die Ursachen von Terror erklärt, da wird Terror quasi entschuldigt. Israel hat "die" Palästinenser vertrieben, also spricht man noch heute gern von "palästinensischen Flüchtlingen". Zwar handelt es sich allenfalls um die Kinder, Enkel oder Urenkel von Vertriebenen, doch ist der Flüchtlingsstatus offenbar vererbbar, wenn auch nicht erbschaftssteuerpflichtig.
Zudem wird durch relativierenden Sprachgebrauch verschleiert, dass nicht Israel sozusagen sich selber gegründet hat, sondern von den Vereinten Nationen auf Betreiben der damaligen Mandatsmacht gegründet wurde. Und längst nicht alle Einwohner dieser Region wurden von neuankommenden jüdischen Siedlern vertrieben; viele verließen ihre Heimat, weil sie auf keinen Fall mit Juden zusammenleben wollten.
Nicht Israel, sondern die umliegenden arabischen Staaten haben diese Menschen bewusst, zum Teil jahrzehntelang, manchmal bis heute unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern zusammengepfercht und sich so eine stets verfügbare "revolutionäre Masse" gehalten.
Nicht Israel hat sich die Vernichtung eines Nachbarstaates oder eines Teils der palästinensisch-muslimischen Bevölkerung als Staatsräson in seine Verfassung geschrieben. Nein, die Ausrottung des Staates Israel samt seiner jüdischen Einwohner ist nach wie vor offizielles Staatsziel des iranischen "Gottesstaates" (was ist das für ein Gott, mit dem da Staat gemacht wird?). Andere islamisch geprägte Staaten der Region haben dieses Staatsziel nur unter Druck diverser von ihnen angezettelter (und verlorener) Kriege gegen Israel aufgegeben – zumindest offiziell.
Allzu oft und allzu lange wurden diese zeitgeschichtlichen Zusammenhänge in Deutschland verdrängt oder relativiert. Dies trug dazu bei, dass sich hier ein per Migration importierter Antisemitismus etablieren konnte.
Erst jetzt, nachdem die widerlichsten Untaten der Hamas-Terroristen in Migrations-Brennpunkten Berlins und anderer deutscher Städte offen und öffentlich bejubelt wurden, geht ein Aufschrei durch unser Land. Der grüne Bundesminister Cem Özdemir war einer der ersten, die hier endlich Klartext redeten: Wer Bürger dieses Landes sein wolle, müsse sich ohne jede Einschränkung zum Existenzrecht Israels bekennen; wer das anders sehe, sei "falsch in diesem Land". Vehement prangerte Özdemir auch die "unerträgliche Naivität" von Vertretern aller Parteien gegenüber gewissen muslimischen Verbänden an, die "uns den Mittelfinger zeigen".
Und der Grünen-Politiker ist nicht der einzige, der schon seit Jahren vor diesen Entwicklungen warnt und sich damit nicht nur bei eigenen Parteifreunden unbeliebt macht. Der Psychologe und Buchautor Ahmed Mansour weist seit Jahren auf den zunehmenden Hass unter muslimischen, speziell arabischstämmigen Jugendlichen hin: Hass auf "die" Juden, den Staat, die in ihren Augen dekadente Gesellschaft der "Ungläubigen". Der Mahner weiss wie kaum ein anderer, wovon er spricht: arabischer Israeli, als junger Mensch zeitweise in Gefahr, sich im Sinne der Hamas zu radikalisieren, inzwischen deutscher Staatsbürger und schwerpunktmäßig aktiv in der Betreuung junger Migranten. Seit langem prangert er zum Beispiel an, dass in arabischen Schulbüchern, die zum Teil auch mit deutschen Steuergeldern finanziert werden, blanker Judenhass gepredigt wird. Traurig und beschämend: Offenbar werden seine mahnenden Worte von hier geduldeten Hamas-Anhängern aufmerksamer wahrgenommen als von vielen der politisch Verantwortlichen – mit der Folge, dass er nicht nur in den vermeintlich sozialen Netzwerken aufs Übelste beschimpft und bedroht wird.
Immerhin: Vielleicht erleben wir tatsächlich eine Zeitenwende. Innerhalb weniger Tage wurde das längst überfällige Verbot radikaler, der Hamas nahestehender Vereinigungen eingeleitet. Die üppigen Entwicklungsgelder an die Palästinenser kommen zumindest auf den Prüfstand, obwohl sie eigentlich ganz eingestellt werden müssten – hier zeigt es sich noch immer, dieses "Ja, aber…" Doch sind es inzwischen andere Stimmen, die den öffentlichen Diskurs bestimmen, etwa Armin Laschet, ehemaliger NRW-Ministerpräsident und CDU-Kanzlerkandidat, oder Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Beide erinnern eindringlich daran, dass jetzt nicht der Zeitpunkt ist, der israelischen Regierung Ratschläge zu erteilen oder darüber zu fabulieren, wer wann was vielleicht hätte anders machen können oder demnächst zu tun habe.
Heute kann es nur heißen: wer ist Täter– und wer Opfer. Hamas hat Israel angegriffen, nicht umgekehrt; die palästinensischen Terroristen schrecken auch vor übelsten Verbrechen nicht zurück, Israel verteidigt sich. Hinzu kommt: Israel ist in der ganzen Region die einzige Demokratie. Und zwar, trotz oder vielleicht gerade wegen der derzeitigen inneren Zerrissenheit, eine rundum funktionierende!
Da gibt es kein "Ja, aber…" mehr. Da gibt es nur eine Seite, auf die man sich stellen kann, nämlich Israel. Ohne Wenn und Aber. Einfach: Ja!