75 Jahre Grundgesetz – 300 Jahre Immanuel Kant
Wie die Gedanken des Königsberger Philosophen die Verfassung
unseres demokratischen Rechtsstaates prägten – Von Hans-Jürgen Mahlitz
Deutschland feiert Geburtstag. 75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland – wenn das kein Grund zum Feiern ist! Wenngleich nicht alle, die da jetzt fröhlich mitfeiern, tatsächlich 75. Geburtstag haben. Denn es waren nur Vertreter der drei Westzonen, die am 8. Mai 1949 eine bewusst provisorische Verfassung namens Grundgesetz verabschiedeten. Mit deren Inkrafttreten am 24. Mai war die Bundesrepublik offiziell gegründet.
Am 1. September 1948 hatten die „Väter des Grundgesetzes“ – insgesamt 65 Ländervertreter, in deren Reihen gerade einmal vier „Mütter“ geduldet wurden – den verfassungsgebenden Parlamentarischen Rat konstituiert, ein Staatsakt "in skuriller Umgebung", nämlich im provisorisch hergerichteten naturkundlichen Museum König zu Bonn am Rhein, wie Carlo Schmid in seinen Memoiren schreibt. Der Staatsrechtler erinnert sich: "In der Halle standen wir unter den Länderfahnen – rings umgeben von ausgeschöpftem Getier aus aller Welt. Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor." Die ausgestopften Giraffen, die angeblich die beginnende Staatsgründung amüsiert beäugten, sind jedoch eher der Legende zuzurechnen. Mit tierischem Ernst hingegen (wogegen damals noch kein Orden verliehen wurde) beobachteten die eher misstrauischen Alliierten die Arbeit des Parlamentarischen Rates.
Von den heutigen 16 Bundesländern waren nur acht, also genau die Hälfte, damals dabei. Berlin durfte, da unter separatem Viermächtestatus stehend, der de facto aber nur noch in den drei Westzonen galt, lediglich nicht stimmberechtige Delegierte entsenden. Das Saarland stand unter französischer Verwaltung und schloss sich erst 1957 auf Grund einer Volksabstimmung dem jungen westdeutschen Staat an. Ein Bundesland Baden-Württemberg gab es noch nicht; es entstand erst 1952 durch den Zusammenschluss von Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. Die sowjetisch besetzten Länder – Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Pommern – schlossen sich zur DDR von Stalins Gnaden zusammen, Stalins Antwort auf die Staatsgründung im Westen.
Und es fehlte alles, was bis Kriegsende deutsch war, aber östlich der Oder-Neiße-Trennlinie lag und dem sowjetischen Machtbereich als Kriegsbeute einverleibt wurde – Schlesien, West- und Ostpreußen.
Letztere waren dennoch im Geiste mit dabei, in Gestalt des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Der nämlich hatte gut zwei Jahrhunderte zuvor Gedanken entwickelt, die den Kern der neuen Verfassung vorgaben. Heute weiß man, dass Kants Gedankenwelt weitaus mehr umfasst als den vielzitierten kategorischen Imperativ ("Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“). Sein bipolares Weltbild ließ keine extremistischen Einseitigkeiten zu. Anders als in den Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts finden wir in Kants Aufklärungswerk keine einseitig absoluten Gewissheiten, sondern stets Begriffspaare: Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten.
Dieses Prinzip bestimmt auch Kants Menschenbild: Für ihn ist der Mensch nicht entweder Individuum oder Teil des Kollektivs. Im Gegenteil: Die scheinbaren Gegensätze gehören in Wirklichkeit zusammen, bedingen sich gegenseitig. Das menschliche Individuum lebt auf allen Ebenen in einer Gemeinschaft – Familie, Nachbarschaft, Stadt oder Dorf, Volk beziehungsweise Staat. Und für alle diese Gemeinschaften gilt: Wenn sie den ihr Angehörenden ihre Individualität absprechen und sie zu Einheitsmenschen im Sinne ihrer Ideologie machen wollen, existieren sie nur unter Zwang und nur auf Zeit. Drastische Beispiele aus der jüngeren Geschichte: Die Union sowjet-sozialistischer Einheitsmenschen war nach 70 Jahren am Ende, das tausendjährige Reich arisch rassenreiner Deutscher bereits nach zwölf Jahren. Für den selbsternannten Chef-Historiker im Kreml sollte dies Anlass sein, einmal über das eigene Verfallsdatum nachzudenken
Aber wie könnte die Alternative zu einem solchen Kollektivismus aussehen? Eine Gesellschaft, in der alle nur Rechte und unbegrenzte Freiheiten haben, in der also nur noch der blanke Egoismus herrscht – eine solche Gesellschaft endet in der Anarchie, in der nur noch das Faustrecht des Stärkeren gilt. Sie ist weder sozial noch demokratisch, weder liberal noch christlich. Man sieht: damals wie heute war nicht alles, was sich "'Alternative" nennt, tatsächlich eine solche.
Die wahre Alternative dürfte, wie so oft, irgendwo im mittleren Bereich zwischen den beiden Polen zu finden sein. Also da, wo auch Immanuel Kant sein Welt- und Menschenbild ansiedelt. Hatte er in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ gegensätzliche Denkmodelle noch wertfrei nebeneinandergestellt, so legte er sich in der „Kritik der praktischen Vernunft“ auf Positionen fest, wie sie ein damals wie heute geltendes Sprichwort beschreibt: „Was du nicht willst, das man dir tut/das füg auch keinem andern zu!“ Die unterschiedlichsten Formen menschlichen Handelns und Verhaltens werden nicht mehr als mehr oder weniger gleichberechtigte Möglichkeiten dargestellt. Vielmehr zieht Kant klare Grenzen, mit vielfältigen „Leitplanken“: Respekt und Rücksichtnahme auf den Nächsten im biblischen Sinne („meine Freiheit endet da, wo deine Freiheit beginnt“), auf die übergeordneten Interessen der Gemeinschaft, in der ich lebe, Hochachtung vor der schieren Größe und inneren Ordnung der Schöpfung, dies alles zusammengehalten von dem „moralischen Gesetz in mir“, welches auf dem rechten Gebrauch meines Verstandes basiert.
Der Königsberger Philosoph beschreibt diese Zusammenhänge mit den herrlichen Worten „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ (Kritik der praktischen Vernunft). Vorsichtshalber schiebt Kant gleich eine Anleitung nach, wie dieser Satz zu verstehen ist. Und wie nicht! Als ob er geahnt hätte, wie dereinst mit Zitaten umgegangen wird: Sinnentstellend verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen, bewusst falsch interpretiert – im politischen Diskurs, in Parlamenten und Medien ist das heute keine Seltenheit mehr, in den so genannten sozialen, in Wirklichkeit eher asozialen Netzwerken bereits Alltag.
Der „bestirnte Himmel über mir“ ordnet, so Kant, den Menschen ein in die schier unendliche Größe der Schöpfung; er „vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit“, erinnert mich daran, auf welch winzigem „Punkte im Weltall“ ich lebe. Das moralische Gesetz in mir hingegen „erhebt meinen Wert“ und „offenbart mir ein unabhängiges Leben“, also Freiheit in Verantwortung, sofern ich die Fähigkeiten meines Verstandes nutze.
Vom "Himmel über mir", also vom Weltall, hat der Philosoph erstaunlich "moderne" Vorstellungen. In einer Zeit, die nur über bescheidene technische und optische Hilfsmittel verfügte, hat er allein mit der Kraft seines Verstandes ein Bild des Universums entworfen, wie es erst gut zwei Jahrhunderte später experimentell bewiesen und allgemein anerkannt wurde. Sicher, mancherlei Details seiner 1755 erschienenen „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ können aus heutiger Sicht nicht stimmen; im Kern aber kommt das System, das er im Aufbau des Alls zu erkennen glaubte, dem heutigen Wissensstand verblüffend nahe.
Hier sieht Kant ein durchgehendes, immer gleiches Prinzip, im Großen wie im Kleinen. Die Erde als Heimstätte des Menschen ist eben nicht, wie frühere Generationen glaubten, der Mittelpunkt der Welt, sondern lediglich einer von sechs Planeten (wer kannte man damals noch nicht), die um die Sonne kreisen. Als nächstes entzaubert Kant heliozentrische Weltbilder: Unsere Sonne ist nur ein her unbedeutender Stern am Rande der Milchstraße. Und selbst die wird nicht verschont: Auch diese Ansammlung von Millionen Sonnen (in Wahrheit sind es sogar Milliarden!) ist nur Teil einer noch größeren Ordnung, die sich aus Millionen (in Wahrheit sogar Milliarden) Galaxien zusammensetzt.
Schließlich geht Kant noch einen Schritt weiter und postuliert, man solle nicht überrascht sein, wenn sich herausstelle, dass es nicht nur dieses eine, unser Universum gebe. Solche Gedanken bewegen auch heutige Astronomen und Kosmologen; wissenschaftlich seriöse Beweise gibt es derzeit ebenso wenig wie glaubhafte Widerlegungen.
Für den Königsberger Denker jedenfalls war klar: Dieser systematische Aufbau des Weltalls resultiert nicht aus einer schier endlosen Folge von Zufällen, sondern zeigt „die sicheren Merkmale der Hand Gottes“, ist also eindeutig "Schöpfung Gottes". Wissen und Glauben sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig.
Was haben diese Gedanken Immanuel Kants mit unserem Grundgesetz zu tun? Sehr viel! Schon in der Präambel, die dem Grundsetz voransteht, zugleich aber fester Bestandteil desselben ist, heißt es im ersten Satz: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…" Damit ist natürlich der Gott des Alten und Neuen Testaments gemeint
Ist dies nun ein Verstoß gegen das Gebot eines religiös strikt neutralen Staates, basierend auf einem Verstoß Kants gegen die eigene Gedankenwelt der Aufklärung? Mitnichten, erläutert der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in einer bemerkenswerten Ausarbeitung aus dem Jahre 2016.
Demnach ist die einleitende Präambel im Zusammenhang mit den Artikeln 4 und 140 zu sehen, in denen die freie Religionsausübung des Einzelnen und die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates festgelegt sind. Laut Wissenschaftlichem Dienst ist die Präambel zwar Teil des Grundgesetzes, "formuliert jedoch kein Staatsziel und aus ihr kann der Einzelne keine Rechte ableiten". Vielmehr solle sie "einen Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Bestimmungen" herstellen.
Gibt es auch hier eine Parallele zu Kant? Immerhin lebte und arbeitete er in einem Staat, dessen König kurz zuvor per Dekret verkündet hatte, jeder solle nach seiner Fasson selig werden. Aber der Königsberger Aufklärer sah wohl keinen Widerspruch zwischen seiner eigenen Festlegung auf den Glauben an den Schöpfergott und dem religiös neutralen Staat Friedrichs des Großen. So löste er das Problem auf seine eigene Art – durch konsequente Nichterwähnung.
Ausführlich hingegen beschäftigte er sich mit jenem Begriff, mit dem Artikel 1 die Grundrichtung des gesamten Verfassungswerkes vorgibt: Menschenwürde. Im Wortlaut heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Punkt! Aus! Kein „Näheres regelt ein Gesetz“, kein „gilt nur für…“ oder „gilt nicht für…“! Dieser Artikel 1, Satz 1 ist unantastbar, er steht vor und zugleich über den folgenden 145 Artikeln (fünf von ihnen wurden inzwischen aufgehoben, vier weiter sind heute gegenstandslos, dafür gelten fünf Artikel der Weimarer Reichsverfassung gleichberechtigt weiter.
Dabei hatten die Mitglieder des Verfassungskonvents, der 1948 auf der Chiemsee-Insel Herrenchiemsee tagte, und des Parlamentarischen Rates vor allem den Rassenwahn der National-Sozialisten in Erinnerung, der in Formulierungen wie „unwertes Leben“ gipfelte. Die Gegenposition hatte ihnen Kant vorgegeben, indem er den engen Zusammenhang zwischen Wert und Würde beschrieb.
Demnach haben Dinge nur dann einen Wert, wenn wir sie nutzen können: Dieser Wert beziffert sich im Preis. Der Mensch hingegen hat kraft seines Verstandes die Fähigkeit, vernünftig und moralisch zu handeln. Daraus folgt für Kant, dass jeder Mensch wertvoll ist, weil er ein Mensch ist: Alles andere hat einen Preis, der Mensch aber hat eine Würde!
Allerdings ist die Menschenwürde kein Freibrief für Beliebigkeit oder Egoismus. Kant verbindet mit diesem Begriff mit klaren Forderungen: Der Mensch soll von den Möglichkeiten und Fähigkeiten seines Verstandes Gebrauch machen, soll sich bei seinem Handeln vom „moralischen Gesetz in mir“ leiten lassen, soll sich seiner Menschenwürde würdig erweisen.
Diese Leitlinie zieht sich auch durch das Grundgesetz. Sie hat sich in den vergangenen 75 Jahren bewährt, trotz gelegentlicher Verirrungen in der Rechtsprechung sowie in der politischen und gesellschaftlichen Praxis. Nehmen wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die pauschale Aussage „alle Soldaten sind Mörder“ als freie Meinung grundgesetzlich zulässig sei: Der Verpflichtung, die Menschenwürde unserer Soldaten „zu achten und zu schützen“, ist diese „staatliche Gewalt“ offensichtlich nicht nachgekommen.
Weitere Beispiele: Wenn Asylbewerber während des Anerkennungsverfahrens die ihnen zustehenden staatlichen Finanzhilfen nicht in bar, sondern in Form einer Scheckkarte erhalten, tangiert das nicht deren Menschenwürde, sondern allenfalls den Profit jener, die diesen Teil unseres Sozialsystems missbrauchen. Und ob ich auf der Autobahn Tempo 100, 130 oder 160 fahre, hat nichts mit Freiheit und erst recht nichts mit meiner Menschenwürde zu tun. Liberale Geister sollten sich nicht bei solchen Banalitäten aufhalten; in diesem unserem Land, das mit 75 eigentlich erwachsen sein sollte, gibt es genügend weitaus wichtigere Anlässe, die Achtung der Menschenwürde anzumahnen.
Deutschland – das demokratische Deutschland, der Rechtsstaat Deutschland – wird 75! Dazu hat auch beigetragen, dass der Verfassungsartikel, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt, selber unantastbar ist – und hoffentlich bleiben wird. Inzwischen setzt sich auch außerhalb geisteswissenschaftlicher Fachkreise die Erkenntnis durch, dass nicht Richard David Precht Deutschlands größter Philosoph aller Zeiten ist, sondern der vor 300 Jahren, am 24. April 1724, geborene Immanuel Kant. Ihm verdankt Deutschland wichtige Elemente seiner Verfassung. Darum sind wir gut beraten, diese beiden Geburtstage – den 75. und den 300. – gemeinsam zu feiern.