Ein Machtwort zum Ende der Macht

 

Hart, aber gar nicht fair: Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft…

Rund 750 Mal, 22 Jahre lang, Woche für Woche am Montagabend, erfuhr das Fernsehpublikum, was so alles passiert, „wenn Politik auf Wirklichkeit trifft“ – es war das Leitmotiv von Frank Plasbergs TV-Magazin „Hart aber fair“. Eine Variante aber ist dem ansonsten so gründlich recherchierenden Moderator entgangen: Erst jetzt wurde. dem staunenden Publikum vorgeführt, was passieren kann, wenn Politik auf Wirklichkeit stößt, das Leitmotiv jedoch heißt „Hart und unfair“.

Die handelnden Personen: Olaf Scholz und Christian Lindner. Der eine entsann sich so zu sagen von Amts wegen, dass im rot-gelb-grünen Koalitionsvertrag das Wort Schuldenbremse vorkam. Offenbar war ihm diese Erkenntnis im falschen Moment gekommen, jedenfalls fielen dem anderen einige Worte ein, die so nicht im Koalitionsvertrag standen: verantwortungslos, egoistisch, respektlos, unmoralisch, kleinkariert. Gemünzt waren sie nicht etwa auf fundamentaloppositionelle Randerscheinungen wie AfD oder Wagenknecht, auch nicht auf aggressive Diktatoren wie Wladimir Putin, Kim Jong-un oder Xi Jinping. Nein, dieses Machtwort, mit dem der Kanzler eines christlich geprägten demokratischen Rechtsstaats das Ende der eigenen Macht einleitete, war sein Abschiedsgruß an den hiermit rausgeschmissenen Bundesfinanzminister, dem allerdings der Bundespräsident am nächsten Tag bei der Übergabe der Entlassungsurkunde Dank für seine „Dienste für unser Land“ in diesen drei Ampeljahren aussprach.

Zudem sah Frank Steinmeier sich veranlasst, verbale Abrüstung und respektvollen Umgang miteinander anzumahnen. Namen nannte er nicht, das war auch nicht nötig. 

Wer an diesem denkwürdigen Mittwochabend miterlebt hat, wie Olaf Scholz mitten in die TV-Aufarbeitung der amerikanischen Präsidentschaftswahl und die Übertragung des Champion-League-Spiels von Bayern München platzte, um vor laufender Kamera seine „Ampel“ abzuschalten, konnte sicher sein, ein einmaliges Schauspiel gesehen zu haben. Ein Schauspiel, dermaßen würdelos, wie es diese unsere Bundesrepublik noch nie (und hoffentlich auch nie wieder) ertragen musste. Scholz ist der neunte deutsche Bundeskanzler. Alle acht vor ihm sind gewiss nicht mit Begeisterung, wohl aber mit Würde und Anstand aus dem Amt geschieden. Mit der jeweiligen Parteizugehörigkeit hatte das nichts zu tun. 

Doch auch dies scheint diesmal etwas anders zu sein. Wie sonst ist der schallende Applaus zu erklären, mit dem die SPD-Fraktion ihren Kanzler empfing, nachdem der soeben seinem rüpelhaft geschassten Finanzminister die eigene Kanzlermehrheit nachgeschmissen hatte. Es hat schon absoluten Seltenheitswert, wenn eine selbst verursachte und selbst inszenierte Niederlage so begeistert gefeiert wird – wohlgemerkt nicht vom politischen Gegner, sondern von den eigenen Parteifreunden! Oder sollte der eine oder andere Genosse im Hinterkopf die sprichwörtliche Steigerungsformel haben: Feind – Todfeind – Parteifreund?

Denn unumstritten ist Scholz auch in den eigenen Reihen nicht. Schon hört man erste Stimmen, ob nicht der Verteidigungsminister der bessere Kanzlerkandidat wäre – angesichts der momentanen Umfragewerte der SPD eine eher theoretische Frage. Aber drei Jahre Ampel haben offenbar auch in dieser Frage vielen den Blick fürs Realistische getrübt: Der gescheiterte Kanzler will Kanzler bleiben, der Noch-Vizekanzler will endlich Kanzler werden, eine Ex-Kanzlerkandidatin will wenigstens Außenministerin bleiben, und der FDP-Chef würde lieber wieder Finanzminister als Apo-Chef. Alt-Achtundsechziger erinnern sich: die Abkürzung stand damals für "außerparlamentarische Opposition".

Ein Neuanfang jedenfalls sähe anders aus, ohne die soeben kläglich Gescheiterten. Deren Zeit ist vorbei. Drei Jahre lang hatten sie Zeit, zu beweisen, dass sie (und nur sie!) das Zeug dazu haben, Deutschland, Europa und – wenn man schon mal dabei ist – warum nicht gleich die ganze Welt in eine bessere Zukunft zu führen. Nun sind sie, sozusagen über Nacht, selber Vergangenheit. Die Zukunft zu gestalten, wird nun aller Voraussicht nach Sache der gegenwärtigen Opposition sein. 

Das jähe Ende der Ampel bestätigt, wie recht die Union hatte, ihren Kanzlerkandidaten rechtzeitig zu benennen. Aber leicht wird Friedrich Merz als mutmaßlicher Scholz-Nachfolger es nicht haben, und welchen Rang er einst in den Geschichtsbüchern beanspruchen kann – ob einer der "Großen" oder unter "ferner liefen" –, ist heute nicht vorauszusagen. Bislang hatte noch jeder unserer Kanzler irgendwann einmal seinen ersten Arbeitstag, war also „Anfänger“. Keiner von ihnen hatte "Kanzler“ gelernt, keiner hatte Erfahrungen als Regierungschef von zig Millionen Bürgern sammeln können. Der eine ist mit dem Amt gewachsen, dem anderen war der neue "Anzug" mindestens eine Nummer zu groß. 

Merz hat bisher als Kanzlerkandidat eine gute Figur gemacht. Immer mehr Bürger trauen ihm zu, die derzeitige Regierungskrise zu bewältigen, bevor sie sich zur Staatskrise ausweitet. Auch wenn die nächste Regierungsbildung wohl noch schwieriger sein wird als die letzte vor drei Jahren: Den Partei- und Fraktionschef der CDU begleiten große Erwartungen auf seinem Weg ins Kanzleramt.

Mit ähnlich großen Erwartungen war auch der Amtsantritt des Sozialdemokraten Olaf Scholz als Chef der rot-gelb-grünen Ampel-Koalition verbunden gewesen. Diese Hoffnungen hat er nicht erfüllt, auch wenn er nun die Schuld am Scheitern allen anderen zuschiebt. Eine weitere Enttäuschung aber kann sich unser Land nicht leisten – diese Last hat Friedrich Merz zu tragen, wenn er – möglichst bald – ins Kanzleramt einzieht.  

Hans-Jürgen Mahlitz