Die Banalität des Bösen

Mehr als ein Krimi – Hans- Jürgen Mahlitz über den ukrainischen Autor Andrej Kurkow und seinen Roman "Samson und Nadjeschda" 

Wie einst Mephisto in Fausts Studierstube (…"der Geist, der stets verneint", …"der stets das Böse will" und dennoch Gutes schafft) hat auch der neue Kreml-Zar trotz all seiner Böswilligkeit manchmal auch Gutes erreicht: zum Beispiel hat er mit seiner Aggression ungewollt die Aufmerksamkeit des westlichen Kulturbetriebs auf die Ukraine gelenkt: Kiews Künstler sind in, Russlands Kulturstars von Tschaikowski bis Netrebko, von Dostojewski bis Puschkin out.

Ukrainische Literatur war hierzulande bislang eher ein Minderheitenprogramm. Die Kreml-Propaganda, die alles Ukrainische zu einer unbedeutenden Abart des Russischen degradierte, hatte allzu lange leichtes Spiel. Und beschämt müssen wir uns fragen: Bedurfte es wirklich erst eines solchen Krieges, um solche kulturelle Okkupation zu entlarven?

Um den Stellenwert und die Eigenständigkeit der Literatur der Ukraine korrekt zu erfassen, empfiehlt sich ein bewährtes Mittel: Lesen. Zum Beispiel Andrej Kurkows '"Samson und Nadjeschda". Ein Kriminalroman, der gegen alle Regeln dieses Metiers verstößt. Samson, die Hauptperson, ist der Gegenentwurf zu Hercule Poirot, Kommissar Maigret oder Sherlock Holmes: ein in den Kriegs- und Revolutionswirren des Jahres 1919 Heranwachsender, der durch Zufall in die Dienste einer Organisation gerät, welche weder mit der Realität neuzeitlicher Ermittlungsbehörden noch mit deren in Kriminalromanen und -filmen gern verbreiteter Fiktion vergleichbar ist. 

Und die Tat, die es aufzuklären gilt, entspricht ebenfalls keinem der gängigen Klischees. Kein Mord, kein spektakulärer Bankraub, kein raffiniert eingefädelter Spionagefall – nein, lediglich ein paar undisziplinierte Soldaten, die alle Möglichkeiten einer Besatzungsmacht nutzen, um im Suff silbernes Essbesteck und andere, nicht übermäßig wertvolle Gebrauchsgegenstände zu stehlen, und die schließlich desertieren, aus Angst, erwischt zu werden. 

Nichts Aufregendes also, eher Banalitäten, über die man normalerweise keinen Krimi schreibt. Einem mittelmäßigen Autor würde bei solchem Handlungsstoff und solchem Personaltableau auch der kriegsbedingte, wohlwollende Aufmerksamkeitsschub für alles Ukrainische nichts nützen. Um aus diesem Anti-Helden Samson den letztlich wahren Helden, aus der eigentlich unerotischen Nadjeschda die emotionale Leitfigur und aus dieser simplen Handlung eine lesenswerte Geschichte mit kontinuierlich sich steigernder Spannung zu machen, bedarf es außer hochentwickeltem Sprachgefühl vor allem einer klaren dichterischen Konzeption. Und Andrej Kurkow verfügt über beides in großem Maße.  

Freilich kommt er nicht ohne Schilderung brutaler Gewaltszenen aus. Gleich auf der ersten Seite muss der junge Samson aus nächster Nähe erleben, wie seinem Vater mit einem Säbel der Schädel gespalten wird. Solche Gewaltausbrüche kommen immer wieder vor. Mit dem zu lösenden Kriminalfall haben sie nur indirekt bis gar nichts zu tun, umso mehr aber mit der Botschaft, die der Autor vermitteln will.

Kurkow macht das Banale zum Außergewöhnlichen, zugleich das Außergewöhnliche zum Banalen. Sinnlose Brutalität, Verrohung, Mord und Totschlag ohne erkennbares Motiv, sozusagen als Zeitvertreib, weil einem gerade nichts anders einfällt – dies alles wird akribisch detailliert beschrieben, sachlich, cool, beängstigend. Szenen, die den eigentlichen Handlungsablauf kaum vorantreiben, für das Verständnis dieses Werkes aber unverzichtbar sind.

Was der Autor hier romanhaft thematisiert, lässt er im Kiew vor einem Jahrhundert stattfinden. Doch erscheint es uns auf erschreckende Weise aktuell. Mir jedenfalls gingen bei der Lektüre immer wieder die Bilder durch den Kopf, die wir aus den zeitweise russisch besetzten, nun wieder befreiten ukrainischen Orten zu sehen bekamen – schier unmenschliche Brutalität, die offenbar für eine enthemmte und verrohte Soldateska zum Alltag gehört. 

Fassungslos fragt man sich: Was bringt einen Menschen – nicht nur den in der Uniform der russischen Armee – so weit, dass er "so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist", wie Brecht es im Zweiten Dreigroschen-Finale formulierte? Kurkows Roman kann und will keine einfachen Antworten geben. Aber es lenkt den Blick des Lesers darauf, wie gefährlich kurz der Weg ist vom eigentlich Unvorstellbaren zum Banal-Alltäglichen, vom – oft angeblich "nicht so gemeinten" – bösen Wort zur noch schlimmeren bösen Tat. Eine Mahnung, die ernst zu nehmen ist – wie ernst, zeigen die aktuellen Ereignisse in der Heimat des Autors. 

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad/St. Petersburg geboren, lebt seit frühester Kindheit in Kiew in Kiew auf, ist seit vier Jahren Präsident des ukrainischen PEN und zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern seines Landes. Warum er nach wie vor auf Russisch schreibt, begründet er im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung so: Dies sei eben seine Muttersprache, im übrigen sei es falsch, wenn man nun Russisch als die "Sprache der Aggressoren" abzustempeln; schließlich sprächen viel der an der Front kämpfenden ukrainischen Soldaten russisch.

Den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt er als "politische und zivilisatorischen Katastrophe"; mit Putin könne es keinen Frieden geben. Die Stärke seines gesamten Schaffens liegt darin, klar Position zu beziehen, ohne in ideologische Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Wohl nicht zuletzt deshalb spricht ihm der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Landesverband Bayern, den Geschwister-Scholl-Preis 2022 zu – völlig zu Recht, was man ja nicht von jeder Preisverleihung sagen kann.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda", Kriminalroman, 365 Seiten, deutsche Übersetzung: Johanna Marx und Sabine Grebing, Diogenes-Verlag, Zürich, ISBN 978 30257007207 5, Preis: 24,-- €.