Zeitenwende

 

Kommentar zu Russlands Krieg gegen die Ukraine
Von Hans-Jürgen Mahlitz

Zeitenwende: Der Moment, in dem russische Truppen die Grenze der Ukraine überschritten, markiert in der Tat das jähe Ende einer Weltordnung. Insofern hat Bundeskanzler Olaf Scholz den richtigen Begriff gewählt. Aber wie sehen sie aus, diese gewendeten Zeiten? Die neue Weltordnung? In welcher Welt werden wir leben, wenn dieser Krieg endlich zu Ende ist?

Wenn dieser Krieg so enden sollte, wie es sich der vorstellt, der ihn angezettelt hat, würden wir in einer Welt leben, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. In der die Interessen des Stärkeren über Verträgen, Regeln und Gesetzen stehen. In der es nur eine von oben verordnete Meinung gibt – wer sich ihr nicht anschließt, schließt sich aus und wird weggeschlossen. 

Allerdings kann der im Kreml residierende vormalige KGB-Mitarbeiter sich nicht sicher sein, ob er im Falle eines militärischen Sieges über die Ukraine und weitere Angriffsziele wirklich als – in Personalunion – Zar und Generalsekretär eines neuen großrussischen Reiches in die Geschichtsbücher eingehen wird. Denn „Big brother“ in Peking sieht das wohl etwas anders: Ein russischer Sieg würde zwar „den Westen“, also USA und Europa, erheblich schwächen. Das wäre zwar im Interesse Chinas, jedoch nicht um den Preis eines allzu mächtigen Russlands. Daher würde Peking alles tun, damit am Ende der wirtschaftlich, politisch und militärisch Stärkere nicht Rußland, sondern China ist. Die Taiwaner wären die ersten, aber nicht die einzigen, die dann zu spüren kriegten, was das „chinesische Jahrhundert“ konkret bedeutet.

Käme es hingegen zu einem langandauernden Zermürbungskrieg, in dem keine Seite entscheidende Vorteile erkämpfen könnte, wäre ein Kompromissfrieden möglich, wenn beiden Kriegsparteien die eigenen Opfer unangemessen hoch erschienen. Für das angegriffene Land, also das Opfer, hieße das: Verzicht auf eigenes Territorium und einen Teil der eigenen Bevölkerung, in Klartext Niederlage. Der Angreifer hingegen könnte mit Hilfe seiner Staatspropaganda und seiner Unterdrückungsmethoden sich selber zum strahlenden Sieger umdeuten und so das eigene Überleben sichern. Mehr jedoch nicht – an Pekings Sicht der Dinge würde sich nichts ändern.

Das dritte denkbare Szenario: Den endlich mit modernen westlichen Waffensystemen ausgestatteten, gut ausgebildeten und hochmotivierten ukrainischen Streitkräften gelingt es, die russische Armee aus weiten Teilen des Landes zu vertreiben. Unabhängig vom persönlichen und politischen Schicksal des Verlierers Putin würde ein Sieg der Ukraine und damit des gesamten Westens Peking jäh aus seinen Weltmachtträumen reißen. 

Wie sind diese drei Szenarien aus deutscher Sicht zu bewerten? Ein Diktatfrieden als Folge einer militärischen Niederlage der Ukraine wäre für Moskaus Machthaber Ermunterung, nach einer Erholungspause das nächste Ziel anzusteuern: vielleicht Moldavien, vielleicht Georgien, vielleicht das Baltikum. Schließlich sind die Amerikaner an der pazifischen Front beschäftigt, wo Peking nach Taiwan greift, und die Europäer, vor allem die Deutschen, kann man ja mit dem Wörtchen „Atom“ in Schach halten – im Zweifel ist Angst stärker als jede Bündnisverpflichtung. Jedoch müsste Moskau sich, um die westlichen Sanktionen (oder was davon noch übrig bliebe) auszuhebeln, wirtschaftlich total von Peking abhängig machen; Chinas KP hätte beste Aussichten, ihr langfristiges Ziel bald zu erreichen.

Auch im Falle eines Kompromissfriedens wäre China langfristig der Gewinner. Putin könnte sich nur von Pekings Gnaden an der Staatsspitze halten – nicht als neuer Zar Großrusslands, sondern als Statthalter einer chinesischen Kolonie. Zudem wäre auch der Westen, da mitverantwortlich für die Quasi-Kapitulation Kiews, moralisch und politisch geschwächt. Wer glaubt, China würde das nicht konsequent ausnutzen, muss schon reichlich naiv sein.

Zwei Sichtweisen einer künftigen Weltordnung kennen wir also: die russische und die chinesische. Beide klingen recht bedrohlich. Die eine stützt sich auf ideologisch verbrämte Geschichtsklitterung, ist weitestgehend realitätsfern (außer wenn es um das geheimdienstlich erfasste Angstpotential weiter Teile der deutschen Bevölkerung geht) und daher zwar ernst zu nehmen, aber nicht ernsthaft zu erwarten. 

Pekings Vorstellungen, wie die Welt künftig aussehen soll, unterscheiden sich in der Sache nicht wesentlich von denen Moskaus. In beiden Fällen haben wir es mit totalitären Unterdrückungssystemen zu tun, beide wollen ihr System weit über den eigenen Machtbereich hinaus installieren und letztlich die ganze Welt ihrem Machtgefüge einverleiben. Aber China geht dabei wesentlich geschickter vor als Russland. Konsequent werden Handel, wissenschaftliche und kulturelle Kontakte genutzt, um dem Langzeitziel näher zu kommen. Wenn man damit nicht weiterkommt, wird Druck ausgeübt. Direkte Gewalt behält man sich als letztes Mittel vor – in Taiwan weiß man, dass auch dies eine durchaus reale Option ist.

Aber wie sieht eigentlich unsere Vision von der Welt von morgen aus? Da ist einerseits das Idealbild: Alle Menschen werden Brüder, in aller Welt gelten Kants kategorischer Imperativ, Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit in Verantwortung. Unsere schöne neue Welt, das ist das Paradies auf Erden, in das wir gewendete Zeitgenossen nun endlich zurückkehren; nur die Schlangen und der Baum der Erkenntnis mit seinen giftigen Äpfeln bleiben außen vor. Ein Trugbild – hören wir endlich auf, von einer Welt zu träumen, die es nie geben wird!

Das Gegenmodell dazu ist eine bipolare Welt: hier die so genannten westlichen Werte, die Gemeinschaft freier Individuen, dort das totalitär-kollektivistische System, in dem der Einzelne nichts, der Staat alles ist. Eine solche Weltordnung wäre nicht die beste aller denkbaren, wohl aber die beste aller real möglichen Vorstellungen, zumindest, solange es in unserer Hand liegt, zu entscheiden, auf welcher Seite wir leben wollen.

Von dieser Entscheidung hängt letztlich auch ab, was wir in der gegenwärtigen Situation zu tun und zu lassen haben. Nehmen wir unsere Werte, festgeschrieben in Verfassungen und Menschenrechtsdeklarationen, wirklich ernst, dann müssen wir alles tun, um diesen Angriffskrieg so schnell wie möglich enden zu lassen. Das setzt aber klare militärische Vorteile für die Ukraine voraus; zum gegenwärtigen Zeitpunkt ginge ein Waffenstillstand nur zu Lasten der Opfer, würde die Aggressoren belohnen und ermutigen. Ein solches Ende dieses Krieges wäre der Auftakt zum nächsten Krieg. 

Daher ist allen Forderungen, die militärische Unterstützung Kiews, insbesondere die Waffenlieferungen, zu stoppen, eine deutliche Absage zu erteilen. Lassen wir die Ukraine jetzt allein, wird es sie bald überhaupt nicht mehr geben. Wir schaffen damit keinen Frieden, sondern liefern Millionen unschuldiger Menschen der brutalsten Unterdrückung aus. Was das konkret bedeutet, haben wir in Butscha gesehen. Ein solcher "Frieden ohne Waffen" erinnert fatal an das "Ruhe in Frieden": in der Ukraine – und wohl bald auch anderenorts – würde nicht '"Frieden" einkehren, sondern Friedhofsruhe. 

Pazifisten zitieren gern (und nicht ganz korrekt) Bert Brecht: "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin…." Und ebenso gern lassen sie die Fortsetzung des Zitats weg. Hier ist sie: "…dann kommt der Krieg zu euch!" Und weiter: "…wer den Kampf vermeiden will, … wird kämpfen für die Sache des Feindes." Dem ist in der gegenwärtigen Auseinandersetzung über Waffenlieferungen nichts hinzuzufügen.