Freiheiten? Freiheit! – Teil 2

Warum Freiheit und Verantwortung zusammengehören

Von Hans-Jürgen Mahlitz

Teil 2:

Die Klammer, die Freiheit und Verantwortung in all ihren Facetten und auf allen Ebenen verbindet, würde man heute Respekt nennen. Bei Kant heißt das: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Besser kann man wohl nicht formulieren. Kants "bestirnter Himmel" nötigt uns Respekt und Demut ab, indem er uns daran erinnert, wie stark wir in übergeordnete Strukturen eingebunden sind: in unsere Familie, den Ort, an dem wir leben, unser Land und Volk, unseren Kontinent, unsere kulturelle und religiöse Gemeinschaft, unsere Erde, unser Sonnensystem mit seinen gigantischen Dimensionen und dennoch nur ein Staubkörnchen in den Weiten des Universums. Zugleich aber erinnert uns Kants "moralisches Gesetz in mir" an die individuelle Verantwortung, die jeder einzelne nicht nur für sein eigenes Leben trägt, sondern auch für die Gemeinschaft, in der er lebt.

Von grenzenloser Freiheit, die allen anderen Grundrechten übergeordnet wäre, ist jedenfalls weder bei Kant oder anderen Philosophen der Aufklärung noch in den Menschenrechtserklärungen der Französischen Revolution oder der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) die Rede. Auch in der Gründungsurkunde der Vereinten Nation (1948) heißt es, die Menschenrechte seien "beschränkt durch die Rechte und Freiheiten anderer oder durch Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des Gemeinwohls in einer demokratischen Gesellschaft; die Menschenrechte anderer müssen anerkannt, nicht nur geduldet werden; einzelne Menschenrechte dürfen nicht dazu verwendet werden, um andere Menschenrechte zu verletzen."

Wem das immer noch nicht klar und eindeutig genug ist, dem sei ein gründlicherer Blick in unser   Grundgesetz empfohlen. Und zwar nicht nur auf die gezielt herausgepickten Passagen, mit denen Querdenker, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und sonstige Antidemokraten und Extremisten sich ihr verqueres Freiheitsverständnis gern schönreden. Zum Beispiel Artikel 5, der die Meinungsfreiheit beschreibt: Natürlich ist da festgeschrieben, dass jeder das Recht hat, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

Das ist aber nur der erste Absatz. In Absatz 2 steht unmissverständlich: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre." Dass diese Begrenzung der Meinungsfreiheit allzu oft auch von deutschen Gerichten außer Acht gelassen wird, stimmt traurig – so werden genau die Falschen ermutigt! Auch andere Grund- und Freiheitsrechte sind keineswegs so unbegrenzt, wie man uns oft glauben machen möchte. Mit einer wichtigen Ausnahme: Artikel 1 lautet schlicht und einfach "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Punkt. Aus. Keine Ausnahme. Keine Einschränkung. Kein Gesetz, das bestimmen würde, wessen Würde unter welchen Umständen vielleicht doch antastbar wäre. Im Gegenteil, der zweite Satz verstärkt diesen obersten Rechtsgrundsatz noch: Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen sei "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". 

 

Womit allerdings nicht gesagt sein soll, mit allem, was einem gerade nicht passt, würden meiner Menschenrechte grundgesetzwidrig angetastet. Um aktuelle Beispiele zu nennen: Wenn ich auf der Autobahn nicht schneller als 130 km/h fahren darf, tangiert das den Fuß, mit dem ich aufs Gaspedal trete, nicht aber meine Menschenwürde. Und wenn ich mich gegen eine gefährliche Seuche impfen lasse, ist das gerade mal ein Stich in meinen linken Oberarm, nicht aber in mein Rechtsbewusstsein als verfassungstreuer Bürger.

 

Auch mit dem Begriff Freiheit sollte sparsamer umgegangen werden. Der Slogan "Freie Fahrt für freie Bürger" klingt zwar flott, prägt sich leicht ein, dürfte also extrem hohen PR- Wert haben. Was ihn aber keinen Deut wahrer macht! Verliere ich etwa meinen Status als freier Bürger, wenn ich auf einer nahezu leeren Autobahn bei strahlendem Wetter nur 130 km/h fahre, obwohl mein Wagen über 200 hergibt? Oder wird der unterbezahlte und nicht korrekt angemeldete Paketbote, dessen Asylantrag gerade abgelehnt worden ist, mit Tempo 140 automatisch zum "freien Bürger"? Mögen diese Beispiele auch noch so banal sein – immerhin aber zeigen sie, dass die Tacho-Anzeigen viel mit der Straßenverkehrsordnung und oft auch mit Vernunft oder Unvernunft zu tun haben, rein gar nichts aber mit Freiheit. 

Allerdings reicht es nicht, klar zu definieren, was Freiheit nicht ist. Natürlich ist Freiheit nicht Freizügigkeit, nicht Anarchie. Aber was dann? Was ist Freiheit? Die Frage ist ebenso kurz, ebenso einfach – und zugleich ebenso schwer zu beantworten wie die Frage des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Die vermutlich älteste Interpretation ist eine politische Aussage: Freiheit als Gegenteil von Unfreiheit, Sklaverei, Unterdrückung. Den Zehn Geboten, sozusagen dem Grundgesetz des Volkes Israel, steht der Satz voran: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat (Ex. 20,2 und Deut 5,6). Dieser politische Freiheitsbegriff kommt im Alten Testament häufig vor. Erst später wird er erweitert um eine moralische und zugleich individualistische Dimension: Freiheit von Sünde beziehungsweise Schuld. Jesus greift diesen Aspekt auf; im Laufe der Kirchengeschichte rückt er immer stärker in den Vordergrund, entartet schließlich zum blanken Geschäftsmodell. Der im Spätmittelalter florierende Ablasshandel bezifferte im Stil eines neuzeitlichen Bußgeldkatalogs, welche Sünde mit wie vielen Rosenkränzen zu ahnden sei – und welche "Bearbeitungsgebühr" der jeweilige Dealer im geistlichen Ornat einbehalten dürfe. Dieses rundum schmutzige Geschäft war anno 1517 der Auslöser der Protestaktion Martin Luthers, die schließlich zur Reformation und konfessionellen Trennung führte. 

 

Die Frage "Was ist Freiheit?" beschäftigte den Reformator so intensiv, dass er 1520 einer wichtigen Publikation den Titel gab "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Zunächst verwirrt er den Leser: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch   ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Aber er versucht, den Widerspruch   aufzulösen: "Um diese beiden widersprüchlichen Redeweisen von der Freiheit und der Dienstbarkeit zu verstehen, müssen wir daran denken, dass ein jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist, von geistlicher und leiblicher. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerer Mensch genannt, nach Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerer Mensch genannt. Wegen dieses Unterschiedes werden in der Schrift Sätze gesagt, die sich strikt widersprechen, so wie ich jetzt von Freiheit und Dienstbarkeit gesprochen habe." Damit knüpft er an eine Aussage Jesu an: "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!"

Mit dieser Schrift hat Luther den Weg geebnet zu einer klaren Trennung von Kirche und Staat; sie hat damit ähnlich grundlegende Bedeutung wie gut zweieinhalb Jahrhunderte später Immanuel Kants Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Darin nennt er als Grundvoraussetzung "die Freiheit, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ Ein bemerkenswerter Satz, der heute wieder einmal ganz aktuell ist: Eine schreiende und pöbelnde, als "Demonstranten", "Prostestierende" oder "Wutbürger" verharmloste Minderheit verstößt eklatant gegen jene Freiheit, die sie stets so lautstark im Munde führt, indem sie von Vernunft in keiner Weise Gebrauch macht. Manche lassen sich gern "Querdenker" nennen. Ein Etikettenschwindel, "Quer" ja – aber "Denker"? 

Das ideologische Gegenstück nennt sich "Letzte Generation": radikale Klima-Aktivisten, die behaupten, im Alleinbesitz aller Wahrheiten zu sein – nach dem Motto: Gott weiß alles, aber wir wissen alles besser! Selbstverständlich nehmen sie sich die Freiheit, Regeln und Gesetze zu brechen, wann immer es ihnen beliebt – den davon Betroffenen hingegen wird, ebenso selbstverständlich, keinerlei Freiheit zugestanden; sie haben sich gefälligst nötigen zu lassen.

Die einen wie die anderen berufen sich auf Freiheit, meinen damit aber etwas völlig anderes. Nämlich das Privileg, anderen ihre Meinung aufzuzwingen. Mit wahrer Freiheit hat das schon deshalb nichts zu tun, weil sie die in allen Deklarationen und Verfassungen, philosophischen und staatsrechtlichen Texten klar definierten Grenzen der Freiheit nicht akzeptieren. Mit ihrem völlig falschen Freiheitsverständnis verstoßen sie gegen alles, was je zur Frage „Was ist Freiheit?“ formuliert wurde. 

Zum Beispiel die alttestamentliche Freiheit als Gegensatz zu Unterdrückung und Knechtschaft: Wer sich in diesem Sinne zum Freiheitskämpfer hochstilisiert, ist hier im falschen Land; wir im so genannten „freien Westen“ haben keinen, die Menschen in der Ukraine hingegen allen Grund, gegen Unfreiheit und Unterdrückung zu kämpfen. Sie setzen im Kampf für ihre (und letztlich auch unsere) Freiheit ihr Leben ein, und Tausende haben es sogar verloren. Unsere ach so tapferen Klimaaktivisten hingegen riskieren kaum mehr ein Bußgeld. 

Was sich da an den politischen Rändern mit dem Schwindel-Etikett "Freiheit" ziert, hat auch mit dem von Luther, Kant und Verfassungs-Autoren formulierten Freiheitsbegriff nichts zu tun. Der nämlich bindet individuelle Freiheit immer an Verantwortung – für andere Individuen und für die Gemeinschaft, in der wir leben. Wer nicht bereit ist, die daraus resultierenden Grenzen einzuhalten, missbraucht die Freiheit. Egal, welchem Zweck zu dienen er vorgibt. Denn unabhängig davon, ob ein Zweck für gut oder schlecht befunden wird – er "heiligt" eben nicht alle Mittel. Zumal in einem Land, das jedem alle Möglichkeiten gibt, frei, ungehindert und ungestraft seine Meinung öffentlich zu äußern, seine politischen Ziele zu formulieren und seine Forderungen anzumelden, solange man damit im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung bleibt. 

Leider scheint hier einiges in Schieflage geraten zu sein, nicht nur an den Rändern, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Wir genießen die Freiheit, die Ukrainer tragen die Verantwortung dafür. Für (fast) alle ist Putin der Bösewicht: für die Ukrainer, weil er Tausende töten lässt, für uns, weil er uns frieren lässt und die Spritpreise hochtreibt. Offenbar brauchen wir in Deutschland, in Europa, im "freien Westen" in Sachen "Freiheit und Verantwortung" dringend Nachhilfeunterricht. Den erteilen uns zur Zeit Präsident Selenskyi und sein tapfer kämpfendes Volk; sie zahlen einen hohen Preis – auch für uns.