Freiheiten? Freiheit! – Teil 1

Ohne Grenzen geht es nicht – Verantwortung und Rücksicht
sind die Leitplanken des wahrhaft Liberalen

Von Hans-Jürgen Mahlitz

 

 

Zeitenwende: Am 5. Mai 1789 machte die Ständevertretung den Weg frei zur Revolu-tion (Stich von Isidore Stanislas Helman nach einem Gemälde von Charles Monnet, Paris, 1840, aus der Privatsammlung des Autors)

 

 

Liberté, égalité, fraternité – das Motto der französischen Revolution hat gerade mal wieder Hochkonjunktur. Vor allem deren erstes Drittel: Liberté, Freiheit! Ob Impfpflicht für Pfleger oder Tempo 130 auf der Autobahn, ob Maske im Flugzeug oder Cannabis für alle, ob Rente mit 68 oder Wahlrecht mit 16, ob grundsätzlich dafür oder dagegen – jeder beruft sich auf seine Freiheitsrechte. Wie damals, am 5. Mai 1789, als Ludwig XVI die Generalstände ins Schloss Versailles einberief, um den drohenden Staatsbankrott mit vereinten Kräften abzuwenden. Stattdessen zerstritten sich die drei Stände, Klerus, Adel, Bürger/Bauern: Der nominell freie Dritte Stand forderte für sich die gleichen Freiheiten, wie sie den beiden anderen Ständen zustanden, diese wiederum nahmen sich die Freiheit, jenen diese zu verweigern. Damit endete die seit 1302 bestehende Institution, der Dritte Stand konstituierte sich als Nationalversammlung, erklärte am 4. August die Privilegien des Adels für erloschen und beschloss bereits am 29 August desselben Jahres die "Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen" (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte).

Sie nennt als erstes der "natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" die Freiheit. Darauf beriefen sich die Revolutionäre der ersten Stunde bei ihrem redlichen Versuch, Unfreiheit,   Ungleichheit   und  Unrecht   zu   beseitigen,   ebenso   wie   die Jakobiner,   deren Terrorregime sich auf die Guillotine stützte – tausendfacher Mord "im Namen der Freiheit". War also – damals wie heute – Freiheit so unscharf definiert, dass jeder sich nach Belieben seine eigene Freiheit definieren kann? Ist Freiheit also nur ein anderes Wort für Anarchie, ein Freibrief für alles und jedes? Auch wenn die Jakobiner des Jahres 1792 wie die Querdenker des Jahres 2022 diesen Eindruck erwecken – dem ist energisch zu widersprechen. Nehmen wir die Erklärung der Menschenrechte von 1789, die nahezu wortgleich auch heute noch Teil der französischen Verfassung ist: Artikel 2 lautet "        Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme.             Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression." (Das Ziel jeder politischen   Vereinigung   ist   die   Erhaltung   der   natürlichen   und   unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.)

Artikel 4 aber erläutert: "La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi." (Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetz festgelegt werden). Auch die Artikel 10 und 11 zeigen die Grenze der Freiheit auf: "   Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, même religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public établi par la loi." (Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört).  

Und weiter: "La libre communication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de l’homme : tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre de l’abus de cette liberté, dans les cas déterminés par la loi." Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen). 

Ein solcher Freiheitsbegriff entspricht dem im 18. Jahrhundert vorherrschenden Denken der Aufklärung. Deren wohl bedeutendster Vertreter, der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, sieht Freiheit in zweifacher Hinsicht gebunden an Verantwortung: individuell, indem meine Verantwortung gefordert ist, wenn meine Freiheit mit der Freiheit meines Nachbarn, Kollegen, Familienangehörigen oder Geschäftspartners zu kollidieren droht ("Verhalte dich gegenüber anderen so, wie du selber von anderen behandelt werden willst"), zugleich gesamtgesellschaftlich („Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“). 

Fortsetzung: Freiheiten? Freiheit! – Teil 2