„Notre Drame“ ist wieder Notre Dame
„Notre Drame“ ist wieder Notre Dame
Paris, 15. April 2019: Ein Feuer brennt große Teile der Kathedrale
Notre Dame de Paris nieder.
Paris, 7. Dezember 2024: Staatspräsident Macron gibt das Gotteshaus
„der Kirche, der Nation und dem Rest der Welt“ zurück.
Irgendwo „am Ende der Welt". So nämlich heißt, frei übersetzt, Frankreichs westlichstes Département: Finistère, abgeleitet vom lateinischen finis terrae. An einer Straßenkreuzung verkündet mein Navi, wie weit ich weg bin von der Hauptstadt: exakt 602,9 Kilometer. Solche Information ist geradezu selbstverständlich in einem Land, in dem nicht nur das Straßen- und Eisenbahnnetz, sondern nahezu das gesamte öffentliche Leben streng zentralistisch ausgerichtet ist. Paris ist mehr als irgendeine Hauptstadt irgendeines Landes. Paris ist die absolute Zentrale.
Aber: 602,9 Kilometer wohin genau? Wo genau in Paris werden die Entfernungen gemessen? An der Stadtgrenze, markiert durch den Périphérique? Im Zentrum, am Obelisk auf der Place de la Concorde? Am Eiffelturm, am Elysée-Palast oder gar am Moulin Rouge? Oder, ganz unromantisch, am berechneten, fiktiven geografischen Mittelpunkt des Stadtgebietes?
Nein, wo immer ich gerade bin, in der Bretagne oder an der Côte d'Azur, im Elsass oder kurz vor der belgischen Grenze, überall erfahre ich exakt, wie weit es bis zum Portal der Kathedrale Notre Dame ist. v
nd das überrascht denn doch in einem Staat, der sich seit Napoleons Zeiten als streng laizistisch versteht. Doch ausgerechnet das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat führte anno 1905 dazu, dass Notre Dame sich bis heute in staatlichem Besitz befindet. Die katholische Kirche ist lediglich nutzungsberechtigt, muss aber die damit verbundenen Kosten tragen.
Auf diese Besitzverhältnisse bezog sich denn auch Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Wiedereröffnungsrede, als er am 7. Dezember 2024, fünfeinhalb Jahre nach dem zerstörerischen Brand, Notre Dame „dem Christentum, der Nation und dem Rest der Welt" zurückgab: der Kirche als Gotteshaus, dem Staat als Kulturdenkmal. Und dem Rest der Welt? Vielleicht kann man es so formulieren: Es ist das globale Gefühl, dass Notre mehr ist als eine Kirche wie jede andere, über alle religiösen, politischen und kulturellen Eigenarten und Grenzen hinweg ein Symbol dafür, was die Menschheit – miteinander, nicht gegeneinander! – zu leisten vermag.
Was damals, vor sieben Jahrhunderten, drei Generationen von Künstlern, Baumeistern und Arbeitern schufen, war von starker Symbolkraft. Dem aus der Erbmasse des karolinischen Reiches entstehenden französischen Staat gaben sie ein Identitätszeichen der nationalen Einheit; der Kunst, der Architektur und der Bautechnik in aller Welt erschlossen sie Neuland. Der Baubeginn im Jahr 1163 markierte den Übergang vom romanischen zum gotischen Stil. Sieben Jahrzehnte später war die neue Bischofskirche nahezu fertiggestellt; in den Jahrzehnten nach 1225 waren noch Fenster und Inneneinrichtung zu ergänzen.
Siebzig Jahre Bauzeit, heute hört sich das sehr lang an, ist es aber nicht. Es gab damals keine Baumaschinen, keine motorisierten Transportgefährte, keine Computer, mit denen man die gewagte Statik der himmelstrebenden Gewerke berechnen konnte. Vergleicht man die damaligen Verhältnisse mit denen von heute, muss man sich eher wundern, dass es so schnell ging. Immerhin brauchten die Kölner für ihren Dom die zehnfache Bauzeit, und ganz fertig sind sie immer noch nicht. Was sich nun insofern als vorteilhaft erwies, als die Kölner Dombauhütte für diffizile Arbeiten die erfahrensten Experten zur Verfügung stellen konnte, zum Beispiel für die Restaurierung der Kirchenfenster, von denen die ältesten aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen, andere aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Als dann am 15. April 2019 ein Feuer große Teile der Kathedrale zerstörte, stand die Welt unter Schock. Kaum jemand wollte dem französischen Präsidenten sein Versprechen glauben, in fünf Jahren werde Notre Dame wieder im alten Glanz erstrahlen. Doch Emmanuel Macron sollte Recht behalten. Fast 350.000 Spender aus über 150 Ländern sammelten umgerechnet rund 840 Millionen Euro ein. Mehr als 2000 Restauratoren aus zig Ländern gingen ans Werk, errichteten ein komplett neues Dach, bauten den hölzernen Vierungsturm wieder auf, restaurierten fachmännisch Fenster und Gemälde, reinigten das Mauerwerk vom Schmutz der Jahrhunderte. So herrlich war die Bischofskirche zuletzt anno 1345 erstrahlt, als 180 Jahre nach dem Baubeginn die Glocken von Notre Dame endlich zum ersten offiziellen Gottesdienst läuteten.
Um zu einem weiteren Symbol zu greifen: Auf der Reise zum Einsatzort in Paris passierten die Kölner Dombauspezialisten die Krönungsstadt jenes ersten großen Europäers, der für die einen Karl der Große, für die anderen Charlemagne ist. Der europäische Geist, dessen Symbol Aachen/Aix-les-Bains ist, hat wesentlich dazu beigetragen, dass Notre Dame in so kurzer Zeit nach der Feuerkatastrophe wiederaufgebaut werden konnte.
So wurde diese Kathedrale erneut, vielleicht sogar stärker als je zuvor, zum Symbol. Nämlich zum Symbol für die Schaffenskraft des Menschen, für den Mut, schier Unmögliches zu wollen, zu versprechen und dann auch zu halten. Zurecht ist Präsident Macron darauf stolz; er darf sich durchaus mit John F. Kennedy und dessen Mondlandevision auf eine Stufe stellen lassen. Gut, dass er die Gunst der Stunde nutzte, um dem künftigen Präsidenten der USA zu zeigen, was das alte Europa zustande bringt. Der Poltergeist aus Washington schien beeindruckt; sollte er auf dem Rückflug von der Eröffnungszeremonie begonnen haben, sich ein neues, besseres Bild von Europa zurechtzuzimmern, können wir uns bei Notre Dame bedanken.
Offenbar wollte schon Victor Hugo, der Autor von „Notre „Notre Dame de Paris" (so der Originaltitel des Romans) diesen Aspekt hervorheben. Der Schriftsteller, der zugleich politisch aktiv war, hatte Mitte des 19. Jahrhunderts in Reden als Parlamentsabgeordneter und in der literarischen Aufarbeitung seiner drei Reisen an den Rhein eine von Deutschland und Frankreich ausgehende Einigung Europas angedacht. In „Notre Dame" hatte er solche Visionen noch nicht so konkret formuliert; sie ergeben sich aber aus seiner Schilderung der politischen, religiösen und kulturellen Bedeutung dieser Kathedrale. Hingegen spielt der „Glöckner von Notre Dame" in dem Roman nur eine Nebenrolle. Warum er der deutschsprachigen Ausgabe den Namen gab, ist nicht nachvollziehbar.
Spätestens seit der spektakulären Wiedereröffnungsfeier wissen wir, dass die Symbolkraft dieses Gotteshauses und Kulturdenkmals sogar über den europäischen Tellerrand hinausgeht. Präsident Macron hatte in seiner Festrede genau die richtigen Worte an Feuerwehrleute und Restauratoren, aber auch an die .Adresse der rund 60 angereisten Staats- und Regierungschefs und die Spender aus über 120 Ländern in aller Welt gerichtet: „Diese Kirche gehört euch allen!" Notre Dame de Paris ist, im ursprünglichen Sinne des Wortes, katholisch, nämlich allumfassend, weltumspannend. Vor fünf Jahren löste der Brand globalen Schmerz aus, heute vollendet sich der Wiederaufbau in globaler Freude. So erschließen sich selbst eher umstrittenen Begriffen wie „Globalisierung" oder „Multikulti" neue Dimensionen.
Das sah wohl auch der Amerikaner Donald Trump so. Obwohl noch längst nicht im Amt, nutzte der künftige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Festakt in Paris zur außenpolitischen Einmannschau. In dessen Windschatten bemühte sich der Franzose Emmanuel Macron, mit außenpolitischen Aktionen von den immensen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Der Ukrainer Wolodymyr Selenskyi, Weltreisender in Sachen Selbstverteidigung, nutzte die Gelegenheit, den „Rest der Welt“ daran zu erinnern, dass dieser europäische und globale Geist des Zusammenhalts, dieses „Miteinander statt gegeneinander", ja, auch dieses „Wir schaffen das" sich nicht darauf beschränken darf, eine abgebrannte Kirche wieder auszubauen.
Nehmen wir einmal an, seine Hoffnungen würden sich erfüllen: Miteinander würden wir Moskaus neuen, selbsternannten Zaren Putin dazu bringen, seinen Angriffskrieg gegen das tapfere Volk der Ukraine zu beenden, dann könnte dieser 7. Dezember 2024 eine wahre Zeitenwende signalisieren. Nicht nur deshalb ist es traurig, dass ausgerechnet jener Politiker, dessen kurze Kanzlerkarriere mit diesem Begriff ihren einsamen Höhepunkt erlebt hatte, es nun vorzog, nicht zu diesem Festakt in die französische Hauptstadt zu reisen. Ach ja, da war er in Hamburg unabkömmlich, musste einen Untersuchungsausschuss des Senats noch einmal daran erinnern, dass er sich an Wesentliches nicht erinnern kann. Die Abwesenheit unseres Bundeskanzlers war eine Blamage für unser Land und ein schlechtes Zeichen, was den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen betrifft.
Ansonsten aber vermittelte diese Kathedrale – insbesondere ihr Wiederaufbau so kurze Zeit nach der Brandkatastrophe, die weltweite Beteiligung an diesem Kraftakt, aber auch die würdevolle Gestaltung der Feierlichkeiten – ausgesprochen positive Signale. Da kann man, auch wenn Emil Luckhardt (1880–1914), der Autor der deutschsprachigen Fassung des kommunistischen Kampfliedes, das völlig anders gemeint hat – nur hoffnungsvoll sagen: "Völker, hört die Signale!“! Gerade in Zeiten, in denen die ganze Welt aus den Fugen zu geraten scheint. Hans-Jürgen Mahlitz
Ende April 2019 hatte „DeutschlandDirekt Online“ diese Beiträge veröffentlicht:
Unser aller Drama…
Die Flammen waren noch nicht erloschen, da hatten die Redakteure von „Libération“ schon das, was Zyniker als „zündende Idee“ bezeichnen würden. Zum ganzseitigen Titelfoto der brennenden Kathedrale Notre Dame stellten sie nur zwei gewichtige Wörter: Notre Drame! In der Tat: In dieser Nacht vom 15. auf den 16. April 2019 war nicht irgendeine Kirche in Brand geraten. Notre Dame de Paris – das war und ist eben nicht nur das zentrale Gotteshaus der katholischen Christen einer Stadt in Frankreich, sondern über konfessionelle Grenzen ein zentrales Symbol der christlichen Religion. Ja, darüber hinaus Symbol religiösen Denkens und Glaubens schlechthin – ein Ort, an dem Christen, Juden, Muslime, Hinduisten, Buddhisten und andere zusammenkommen, um das Verbindende über das Trennende zu stellen.
Auch im weiterem Sinne ist Notre Dame das Herz Frankreichs: Ob in Nîmes oder Lille, in Brest oder Metz – die Schilder mit den Kilometerangaben nach Paris beziehen sich auf das Portal der Kathedrale.Selbst über die Grenze des Nationalen hinaus hat Notre Dame Symbolkraft. Dieser Sakralbau auf der Seine-Insel steht auch für das, was man „Christliches Abendland“ nennt: eine über Jahrhunderte bewährte Symbiose von Religion, Kunst und Kultur. Freilich auch für eine nicht immer so strahlende Nähe von Religion und politischer Macht. Kein Wunder also, dass alle Welt den Atem anhielt. Das Inferno rückte ins Bewusstsein, wie zerbrechlich unser gesellschaftliches und privates Leben ist – Notre Dame, Notre Drame. Doch nach wenigen Tagen war das Thema aus den Schlagzeilen verschwunden, hatte sich reduziert auf kleinkarierten politischen Streit, wie lange die Renovierung dauern und was sie kosten würde. Das also ist das wahre Drama: ein Zeitgeist, der immer schneller und immer oberflächlicher dem noch Spektakuläreren nachhechelt, der es allenfalls noch schafft, für kurze Momente innezuhalten. Das Hamsterrad des Informationszeitalters dreht sich immer rasanter, der Zeitgeist käme da nicht mehr mit, würde er noch lange fragen, was wichtig ist und was banal. Notre Dame in Flammen – die vielfältige Symbolkraft macht es zu Notre Drame, zu unser aller Drama. H.J.M.
Damals in Notre Dame…
Mit dem Brand kam die Erinnerung – Heiligabend 1983, Festessen in Paris aus familiärem Anlass. Während wir im Tour d'Argent unsere Ente (numéro 614.057, nach Maître Frédérics Rezept, gezählt seit 1890) zerlegen, genießen wir den Blick auf die Île de la Cité und Notre Dame.
Spät am Abend, bei eisiger Kälte, zurück zum Hotel, weit draußen im XVII. Arrondissement. Aber keine Metro mehr, kein Bus, also losziehen und auf ein freies Taxi hoffen.
Kein Taxi zu sehen, jedoch in der Ferne vertraute Klänge zu hören – wer mag dort wohl singen, um diese Zeit? Wir folgen den Klängen, ohne noch auf den Weg zu achten, merken, als wir vor diesem gigantischen Kirchenportal stehen, nicht mehr, wie kalt es ist, denken nicht mehr an den langen Fußmarsch, den wir wohl noch vor uns haben.
Wir treten ein. Nein, wir tauchen ein in eine weihnachtliche Stimmung, wie wir sie nie zuvor und nie mehr danach erlebten. Tausende Menschen aus aller Herren Länder, die eins verbindet: ein Lied. In vielleicht 50, vielleicht 100, egal in wie vielen Sprachen, die einen laut, die anderen leise, die einen richtig, die anderen falsch, aber alle aus vollem Herzen – Stille Nacht, Heilige Nacht!
Diese Mitternachtsmesse in Notre Dame – kein Drama kann diese Erinnerung zerstören.
H.J.M.