Die dunklen Zeiten sind zurück
Scharfe Kritik am Rausschmiss des jüdischen Dirigenten Lahav Shani
– aber wo bleibt der „Aufstand der Anständigen“ gegen
Rassisten und Antisemiten? Ein Kommentar von Hans-Jürgen Mahlitz
Mir fehlen die Worte, und das sollte mir nach sechs Jahrzehnten journalistischer Arbeit eigentlich nicht passieren. Aber was vorgebliche „Kulturschaffende“ im belgischen Gent sich jetzt geleistet haben, entzieht sich einer Kommentierung in halbwegs angemessenem Vokabular. Die Ausladung der Münchner Philharmoniker mit ihrem israelischen Dirigenten Lahav Shani markiert einen moralischen, politischen und kulturellen Tiefpunkt.
Die Begründung des Boykotts fadenscheinig zu nennen, wäre eine Verharmlosung. Sie ist schlicht und einfach verlogen, Punkt für Punkt. Das „Flanders Festival Ghent“ hatte die Absage des Konzerts damit begründet, dass der in Tel Aviv geborene Shani auch Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra sei. Man sei deswegen „nicht in der Lage, für die nötige Klarheit über seine Haltung dem genozidalen Regime in Tel Aviv gegenüber zu sorgen", hieß es auf der Homepage des Festivals.
Einmal abgesehen davon, dass sich in Tel Aviv weder ein „genozidales“ noch überhaupt irgendein „Regime“ befindet (die damit gemeinte israelische Regierung hat ihren Sitz in Jerusalem): Die Festivalveranstalter hätten sich ohne übermäßigen Aufwand informieren können, mit wem sie es da zu tun haben. Nämlich mit einem in der Welt der Klassik und darüber hinaus hochangesehenen Musiker, der keinerlei Verbindung zu den derzeit in Israel Regierenden hat, der sich in den letzten Jahren immer wieder für ein Ende der Gewalt und für ein friedliches Miteinander von Juden und Palästinensern engagiert hat.
So hatte der Dirigent, der zur Spielzeit 2026/27 die Leitung der Münchner Philharmonie übernimmt, erst kürzlich darauf hingewiesen, dass das Israel Philharmonic Orchestra die Kultur Israels repräsentiere, aber nichts mit einer Partei oder der Regierung zu tun habe. Er hoffe, irgendwann mit allen spielen zu können, „mit Palästinensern, aus Gaza, aus der Westbank, egal wo". Es sei „traurig, dass das nicht unsere Realität ist". Der einzige Weg sei Frieden.
Und Shani belässt es nicht bei Worten: Indem er beispielsweise das von Daniel Barenboim gegründete West Eastern Divan Orchestra dirigiert, in dem arabische und israelische Musiker gemeinsam großartige Klassik zelebrieren, macht er sich bewusst auch dessen Engagement für eine friedliche Lösung des Nahostkonfliktes zu eigen und fordert mehr „mutige Menschen, die die schwierigen Schritte zum Frieden wagen“. Krasser kann der Gegensatz zu dem, was ihm jetzt in Gent vorgeworfen wird, nicht sein.
Igor Levit, derzeit einer der weltweit besten Pianisten, brachte in den ARD-tagesthemen die Sache auf den Punkt: Er sei „wütend und erschüttert über das, was da passiert ist. Dass Lahav Shani - als israelischer Künstler und auch nur weil er israelischer Jude ist - mitsamt seinem wunderbaren Orchester einer solchen kollektiven Bestrafung unterworfen wird, ist ein unerträglicher Akt, ein schockierender Akt. Es ist eine neue Stufe der schockierenden Akte in den vergangenen zwei Jahren im kulturell-politischen Bereich. Es ist nicht anders zu bewerten als klassischer, ekelhafter Antisemitismus. Und Feigheit.“
Die Begründung der Veranstalter, sie wollten nicht die „Ruhe oder Gelassenheit des Genter Festivals gefährden", kommentiert Levit so: „Damit kapitulieren sie vor dem Mob auf der Straße. Das ist erschütternd, und ich muss sehr aufpassen, dass meine Wortwahl zivilisiert bleibt.“ Die Neue Zürcher Zeitung erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass „Gesinnungsprüfungen eine Sache von Diktaturen“ seien; ein Kommentator fragte süffisant, ob Antisemite wie in Gent auch „ einen Daniel Barenboim ausladen würden“.
Starke Worte kamen auch aus der Politik. Kultur-Staatsminister Wolfram Weimer sprach von einer „Schande für Europa“, einem „Kultur-Boykott unter dem Deckmantel vermeintlicher Israel-Kritik“ und forderte, „europäische Bühnen dürften nicht zu Orten werden, an denen Antisemiten den Spielplan diktieren.“ Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nannte die Entscheidung „unerträglich": Kunst soll verbinden und nicht ausgrenzen, aber offenkundig gebe es im Kunstbetrieb eine „stärkere Form von Antisemitismus". Ähnlich Bundesaußenminister Johann Wadephul: „Inakzeptabel! Für Kritik an der israelischen Regierung dürfen niemals hier lebende Jüdinnen und Juden instrumentalisiert werden.“ Die deutsche Botschaft in Belgien stellte mit sofortiger Wirkung die Zusammenarbeit mit der Genter Festivalleitung ein.
Auch in Belgien sorgte die Absage für Empörung. Premierminister De Wever sagte, „Jemandem allein aufgrund seiner Herkunft ein Berufsverbot aufzuerlegen, ist sowohl rücksichtslos als auch unverantwortlich.“ Dieser Vorgang habe „dem Ansehen unseres Landes schweren Schaden zugefügt“. Auch Flanderns Regierungschef Matthias Diependaele bedauerte die Konzertabsage.
Lediglich Jan van den Bossche, künstlerischer Leiter des Festivals, verteidigte den Rausschmiss, den er „zufällig“ bekannt gab, als Shani und die Münchner Philharmoniker gerade zu einem Konzert auf dem Lucerne ‚Festival antraten. Van den Bossche selbst mag das für „geschicktes Timing“ halten, für mich ist es eine Geschmacklosigkeit.
„Entsetzt“ zeigte sich auch die rot-grün regierte Landeshauptstadt München. Kulturreferent Marek Wiechers betonte: „Unser designierter Chefdirigent Lahav Shani steht … wie kaum ein anderer für Menschlichkeit, Versöhnung und Verständigung." Die CSU-Fraktion im Landtag stellte klar: „Banker Antisemitismus hat hier nichts, aber auch gar nichts verloren." Die Freien Wähler, Koalitionspartner in der Landesregierung, bezeichnet die Ausladung als „Katastrophe, die Erinnerungen an dunkle Zeiten hochkommen lässt".
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kritisiert, die Ausladung sei mit dem Anspruch einer offenen, pluralistischen Gesellschaft nicht vereinbar. Künstlerische Freiheit dürfe nicht selektiv gewährt werden – und schon gar nicht auf Grundlage von Herkunft oder Religion". Er fühle sich an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte erinnert. Im Nationalsozialismus habe man als Künstler nur dann auftreten können, so Schuster, wenn man das Regime aktiv unterstützt habe.
Traurig finde ich, dass es offenbar erst zu solchen Eklats kommen muss, damit endlich klar wird, wo die Grenzen des politischen und menschlichen Anstands verlaufen, was wahr ist und was Lüge, wer Opfer ist und wer Täter. Über sein politisches Gewicht hinaus hat dieser Fall aber auch eine zutiefst menschliche Dimension. Ich fraqe mich, ob die Festivalveranstalter und die ihnen verbliebenen Gesinnungsfreunde auch nur einen Moment bedacht haben, was sie damit Menschen antun, die den Holocaust überlebt haben, deren Familien großenteils Opfer des antisemitischen Rassenwahns geworden waren, die endlich glaubten, in einem neuen Europa mit einem neuen Deutschland ohne Verfolgung und ohne Angst vor den Mördern leben zu können. Die trotz allem, was sie erfahren und erlitten haben, die Größe hatten, am Aufbau einer neuen, besseren, friedlicheren Welt aktiv und konstruktiv mitzuwirken.
Wie die Präsidentin der Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern und frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. Mit deutlichen Worten kritisierte sie die Konzertabsage. Dies sei „eines der krassesten Beispiele des aktuellen Judenhasses – bigott, unverfroren und unverschämt. Großartige Künstler wie Lahav Shani werden von vermeintlich weltoffenen Institutionen dazu genötigt, entweder selbst Israelhass zu unterstützen oder als Paria behandelt zu werden. Das ist an Niedertracht nicht zu überbieten.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Fast nichts, außer der Hoffnung, dass diejenigen, denen diese Niedertracht gelten soll, am Ende doch die Stärkeren sind.
PS: Auf den „Aufstand der Anständigen“ gegen Rassismus und Antisemitismus – nicht nur den rechten, sondern auch den linken und islamistischen – muss man wohl weiter vergeblich warten. Stattdessen durfte die Ex-Vorsitzende der „Kommunistischen Plattform“ in der SED-Nachfolgepartei, die sich zur Zeit „Die Linke“ nennt, im Herzen der deutschen Hauptstadt eine Demonstration gegen den angeblichen „Völkermord“ Israels organisieren. Dies nur wenige Tage nach dem Eklat von Gent – Zufälle gibt’s!