Die Deutschen und ihre Sprache
Ein Kommentar von Hans-Jürgen Mahlitz
Die Deutschen - das Volk der Dichter und Denker. Goethe und Schiller, Kant und Hegel, Luther und Grimm, Humboldt und Einstein: große Deutsche, auf die wir zu Recht stolz sind. Sie haben in aller Welt Kunst, Philosophie, Religion und Wissenschaft maßgeblich geprägt. Und sie alle verbindet eines: die gemeinsame Sprache. Über einen Zeitraum von 1200 (zwölfhundert, nicht nur zwölf!) Jahren war sie das stärkste Band der nationalen Identität. Deutscher war, wer deutsch sprach.
Kein Geringerer als Karl der Große hatte den Begriff eingeführt. Dem Reichsgründer war es, wie Notker von St. Gallen in seinem 883 erschienenen Werk „Gesta Karoli Magni“ berichtet, wichtig, für die ostfränkischen Sprachen und Dialekte einen Sammelbegriff zu schaffen, die „teutisca lingua“. Dieses lateinische Wort verballhornt das altgermanische „thiodisk“, was „zum Volke gehörig“ bedeutet. Damit war ein bedeutsamer Bedeutungswandel vorgezeichnet. Schon im um 1080 veröffentlichten Annolied ist „deutsch“ weit mehr als die Bezeichnung einer Sprache: „Diutschin sprechin diutschin liute in diutischemi lande“ (Deutsch sprechen deutsche Leute in Deutschland).
Karls Reich zerfiel nach seinem Tod. Der ostfränkische Teil mutierte zum Heiligen Römischen Reich, später mit dem Zusatz „Deutscher Nation“, jedoch ohne die Attribute eines Nationalstaates. Die Klammer, die den sich heranbildenden machtpolitischen Flickenteppich zusammenhielt, war die Sprache. Dass sie nicht ungezügelt und unreglementiert zerfledderte, ist vor allem zwei Männern zu danken: Johannes Gutenberg und Martin Luther.
Der eine erfand um 1450 die Kunst des Buchdrucks und brachte als erstes Werk die Bibel in lateinischer Sprache unters Volk. Das aber war mehrheitlich des Lateinisches nicht mächtig. Luther zog die richtige Konsequenz und übersetzte die Bibel ins Deutsche. Damit verhalf er nicht nur der Reformation einer in 1500 Jahren erstarrten und zum Ablasshandel verkommenen Kirche zu einer breiten öffentlichen Basis, sondern legte zugleich den Grundstein einer einheitlichen deutschen Schriftsprache. Zwei Leistungen, die einander bedingten: Hätte das Volk nicht eine in seiner Sprache gedruckte Bibel in die Hand bekommen, hätten machtbesessene und geldgierige Kirchenfürsten Luthers theologische Erneuerung wohl leicht unterdrücken können. Und kein anderer Text als die fachkundig übersetzte Bibel hätte dem gerade erfundenen Buchdruck eine so rasante Verbreitung sichern können. Die deutsche Lutherbibel war - jüngeren Lesern sei es ins Laptop geschrieben - der Einstieg ins Informationszeitalter.
Pro forma gab es die Deutsche Nation als Namensgeber eines vorgeblich Heiligen Römischen Reiches, das aber weder heilig noch römisch noch ein Reich war, bis 1806. Das wirklich existierende Deutschland bestand aus über 30 Königreichen, Fürstentümern, Stadtstaaten usw., alle auf strikte Souveränität bedacht, mit eigener Währung und eigenen Streitkräften.
Aber auch mit einer gemeinsamen Sprache: deutsch. Es war die Sprache eines Volkes ohne eigenen, einheitlichen Staat. Und es war die Sprache Goethes, Schillers und Kants. Weimar und Königsberg waren geistige Zentren, mehr als Berlin oder Wien. Besonders aufmerksam, wenn auch nicht ohne Hintergedanken, beobachtete dies die französische Schriftstellerin Anne Louise Germaine de Stael. In ihrem bekanntesten Werk („De l'Allemagne2) beschreibt sie die Deutschen als „dichtende und denkende Menschen“. Diese Formulierung finden wir drei Jahrzehnte zuvor bei dem Schriftsteller und Märchenerzähler Karl August Musäus; weltweit populär wird sie aber erst durch die Französin. Madame de Stael führt den lobenswert feinsinnigen Umgang der Deutschen mit der eigenen Sprache auch auf die Nichtstaatlichkeit zurück: Die „ausgezeichneten Männer Deutschlands“ seien eben nicht in ein und derselben Stadt versammelt; es gebe viele kulturelle Zentren und sogar „eine unbegränzte Preßfreiheit“ – ein deutlicher Seitenhieb gegen den von Madame anfangs unterstützten, später bekämpften Napoleon.
Doch das Urteil der ebenso streitbaren wie anlehnungsbedürftigen Autorin ist nicht frei von Kritik: Die deutschen Schriftsteller „beschäftigen sich nur mit Theorien, mit Gelehrsamkeit, mit literarischen und philosophischen Untersuchungen, und davon war für die Mächtigen dieser Welt nichts zu fürchten“.
In der Tat schien die Sprache in deutschen Landen quasi die Rolle einer Art Ersatz-Politik anzunehmen – ein Sprachraum, umgeben von mehr oder weniger mächtigen Nationalstaaten. So sah das auch der Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker Wolfgang Menzel: „Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten. Was wir auch in der einen Hand haben mögen, in der anderen haben wir gewiss immer ein Buch.“ Ähnlich spottete auch der ansonsten von Menzel heftig befehdete Goethe: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ (Faust I).
Ein Jahrhundert später machte Karl Kraus aus den Dichtern und Denkern ein „Volk von Richtern und Henkern“. Dann wurde nach zwei verlorenen Kriegen Deutsch vollends verengt zur „Sprache der Täter“ oder gar „Sprache der Mörder“. Und heute mokieren sich deutsche Bildungspolitiker, leider nicht zu Unrecht, über „Dichter, Denker, Schulversager“.
Solch kritische Worte über die Deutschen und ihre Sprache sind schmerzlich und manchmal auch übertrieben. Aber sie beschreiben eine Entwicklung, mit deren heutigem, hoffentlich nur vorläufigem Schlusspunkt wir keineswegs zufrieden sein können. Erinnern wir uns: Es war die Sprache, die dieses Volk zusammenhielt und zu beständigen staatlichen Formen finden ließ. Dass es im 19. Jahrhundert zur Reichsgründung und schließlich zur heutigen staatlichen Ordnung im deutschen Sprachraum kommen konnte, war zu großen Teilen das Verdienst des Schriftstellers Hoffmann von Fallersleben. Daher ist die dritte Strophe seines Deutschlandliedes zu Recht unsere Nationalhymne (die anderen Strophen sind übrigens keineswegs „verboten“, wie uns übereifrige Ideologen weismachen wollen).
Die deutsche Sprache hat unser Volk länger als ein Jahrtausend zusammengehalten. Wenn wir heute beklagen, dass diese unsere Gesellschaft auseinanderdriftet und zu einer Ansammlung von Individuen, pardon: Singles entartet, die nichts miteinander zu tun haben wollen, dann hat das auch damit zu tun, was unserer Sprache angetan wird – von außen, aber auch von uns selbst. Natürlich steckt hinter der anglo-amerikanischen Sprachüberfrachtung System: Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken, die Menschen, das ganze Land. Aber vor lauter Jammern über Anglizismen sollten wir nicht vergessen, wie viel davon uns aufgezwungen wurde und was wir uns freiwillig angeeignet haben. Das angeblich englische „Handy“, mit dem kein Engländer oder Amerikaner etwas anfangen kann, ist ein Beispiel von vielen.
Prof. Walter Krämer vom Verein Deutsche Sprache brachte es auf den Punkt: „Wer nichts zu sagen hat, sagt es auf Englisch“. Na also: Wenn wir – in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur und im täglichen Leben – noch etwas zu sagen haben wollen, sagen wir es doch ganz einfach auf Deutsch!