Die Qual mit der Wahl
Warum die Amerikaner anders ticken – und anders wählen
Auf den ersten Blick schien es wie im Sprichwort: "Wer die Wahl hat, hat die Qual…" Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich: Die größte Qual mit dieser Präsidentschaftswahl haben nicht die amerikanischen Wähler, sondern wir Europäer, insbesondere wir Deutschen. Am "Tag danach" mussten wir gleich mehrere bittere Pillen schlucken.
Zunächst einmal die überraschende Erkenntnis, dass der amerikanische Präsident weder in den Debattierrunden von ARD und ZDF noch in den Redaktionsstuben von "Spiegel", "FAZ" oder 'Welt" und erst recht nicht bei "Tik Tok", "Twitter" oder "Facebook" gewählt wird, sondern in Amerika, von Staatsbürgern der USA. Die Aufmerksamkeit, die hierzulande dem Duell Trump/Biden und später dann Trump/Harris monatelang zuteilwurde, würden sich unsere Politiker für ihre politische Alltagsarbeit wünschen, wenigstens gelegentlich. Oft hat man den Eindruck, dass sich Interesse und Engagement der Deutschen mit zunehmender Entfernung steigern – je weiter weg, um so intensiver der Streit darüber.
Doch der Schock sitzt noch tiefer: Als ob es nicht reichen würde, dass nicht wir, sondern diese Amerikaner allein darüber befinden, wer sie in den nächsten vier Jahren regieren soll – dann gehen sie auch noch hin und wählen den Falschen. Nämlich nicht die erklärte Sympathieträgerin des europäischen Mainstreams, sondern den antieuropäischen Bösewicht. Nicht die stets freundliche, stets lachende Vizepräsidentin, sondern den aggressiv auftretenden, stets schimpfenden und pöbelnden Ex-Präsidenten. Der freilich keine Gelegenheit auslässt, dieses Image mit markigen Sprüchen, ordinärem Vokabular und unflätigen Gesten zu bedienen.
Bis zum Wahltag wurde bei uns leidenschaftlich diskutiert, was ein – natürlich unwahrscheinlicher, da unerwünschter – Sieg Trumps für Europa, speziell für Deutschland bedeuten würde: Nichts Gutes, da waren sich fast alle einig. Meinungsunterschiede beschränkten sich in der Regel auf das Ausmaß der zu erwartenden Katastrophe. Auch hier gefiel Trump sich in der Rolle des Brandstifters: Kritik an beleidigenden Äußerungen beantwortete mit noch üblerem Vokabular, und Europas Furcht vor härtesten Aktionen, wie er sie gern ankündigte, konterte er mit noch drastischeren Plänen.
Das ist so seine Art, und weil das so ist, waren die meisten diesseits des Atlantiks sicher: Die Amerikaner werden doch nicht so blöd sein und solch einen zum Präsidenten wählen! Dementsprechend fielen die Umfragen aus: Kopf-an-Kopf-Rennen, knapper Vorsprung für Harris! Allerdings hielt dieses Wunschdenken nur bis zum Wahltag, dann wurde es jäh von der Realität eingeholt.
Die Kandidatin der Democrats war quasi aus dem Nichts gekommen, und eben dorthin wurde sie von den Wählern auch zurückgeschickt. Dass sie als Vizepräsidentin keinen Amtsbonus hatte, ist nicht ihr, sondern ihrem Chef anzulasten, der seine Stellvertreterin eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit amtieren ließ. Vor diesem Hintergrund war es mutig, sich so kurzfristig zur Verfügung zu stellen und als Frau und Farbige – neudeutsch: mit Migrationshintergrund – anzutreten, in einem Land, das immer noch vom „alten weißen Mann“ dominiert wird.
Dieser sprichwörtliche „alte weiße Mann“ hat einen Namen: Donald Trump. Im Gegensatz zu Kamala Harris war er allen – fanatischen Anhängern wie erbitterten Gegnern – hinlänglich bekannt. Sein ordinäres Vokabular, die gezielte Beleidigung und Herabwürdigung Andersdenkender, das hemmungslose Verbreiten dessen, was er im Gegenzug bei anderen als „Fake news“ bezeichnet: all das haben wir vor acht Jahren schon einmal erlebt, als Donald Trump, mal Milliardär, mal Pleitier, in die große Politik einstieg, den eigenen Parteifreunden das Blaue vom Himmel und allen anderen die Hölle auf Erden „versprach“ und nach gewonnener Wahl sein undurchsichtiges und wohl nicht immer ganz sauberes Geschäftsmodell auf ein Unternehmen namens Staat übertrug.
Aus europäischer Sicht – öffentliche und veröffentliche Meinung ausnahmsweise einmal im Gleichschritt –waren das gute Gründe, auf Harris und nicht auf Trump zu setzen. Aus Sicht einer deutlichen Mehrheit der amerikanischen Wähler hingegen waren das keine Gründe, die sie hindern könnten, Trump und nicht Harris zu wählen.
Denn was uns Europäern als wesentliches Kriterium gilt , ist offenbar für Amerikaner nur eine von vielen Facetten. Sie – und nicht wir – leben unter völlig anderen Alltagsbedingungen, politisch, gesellschaftlich, geografisch, klimatisch. Daher ticken sie anders als wir. Uns stört Trumps unflätiges Benehmen, seine ordinäre Sprache, sein mittelalterliches Frauenbild usw. dermaßen, dass er für viele unwählbar ist; viele Amerikaner mag das auch stören, wichtiger jedoch sind ihnen die tatsächlichen oder fiktiven Vorteile, die sie von seinen konkreten politischen Entscheidungen erhoffen. Also wählten sie ihn.
Amerikaner, Europäer und alle anderen haben vier Jahre Erfahrung mit einem Präsidenten Donald Trump. Doch was nützt uns das? Die wichtigste Lehre, die man aus dieser ersten Amtszeit ziehen kann, lautet: Man kann daraus, was die zweite Amtszeit betrifft, überhaupt keine Lehren ziehen. Zum geringeren Teil, weil niemand voraussagen kann, wie sich die diversen Krisenherde (Ukraine, Nahost), der Welthandel oder die Herausforderungen des Klimawandels in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln.
Hauptursache der allgemeinen Verunsicherung aber ist Trumps Unberechenbarkeit. Man kann sich nur auf eins verlassen: dass man sich bei ihm auf garnichts verlassen kann. Vermutlich weiß er heute selber noch nicht, ob er Moskaus neuem Zaren demnächst als Männerfreund oder Todfeind gegenübertreten soll. Oder wie er gerade gelaunt ist, wenn die Handelsbeziehungen mit Europa auf der Tagesordnung stehen, wenn Peking mal ausprobiert, wie weit Amerikas Beistandsversprechen gegenüber Taiwan heute noch gelten, oder wenn Teheran die Aufgeregtheiten der so genannten Weltöffentlichkeit zu einem erneuten Angriff auf Israel nutzt.
Viele Fragezeichen, und keine Antworten in Sicht! Auf die Welt im zweiten Viertel des 21. Jahrhunderts kommt einiges zu, und aus europäischer Sicht scheint es sich eher um nichts Gutes zu handeln.
Wenn unser Kontinent nicht vollends in die zweite Liga der Weltpolitik absteigen will, muss er unter starker Führung geschlossen auftreten und mit einer Stimme reden. Stattdessen rätselt man zwischen Lissabon und Warschau, zwischen Stockholm und Athen darüber, nach welcher Logik die in Berlin Amtierenden gerade jetzt den richtigen Moment gekommen sahen, ihre „Ampel“ abzuschalten. HJM